Geschichte Geschichte: Strafarbeit im Silbersee
Halle (Saale)/MZ. - Es reichte der Schuh, um die unsichtbare Gefahr zutage zu fördern. Zehn Sekunden im Staub scharren, und schon füllte sich die kleine Mulde im Boden mit einer silbrig-schillernden Flüssigkeit. Das Chemiekombinat Buna, Mitte der 80er: Zentimeter unter der Oberfläche der Chlorelektrolyseanlage steht ein See aus hochgiftigem Quecksilber.
Wer hier arbeitet, lebt mit der Gefahr, seine Nieren dauerhaft zu schädigen. Viele tun das freiwillig, weil der Lohn höher ist als irgendwo sonst. Viele andere aber haben keine Wahl - sie büßen eine Gefängnisstrafe ab und sind zwangsweise in denn Chemieknast bei Schkopau verlegt worden.
Wie der hallesche Historiker Justus Vesting in einem eben erschienenen Buch beschreibt, war das mitteldeutsche Chemiedreieck zu DDR-Zeiten ein Zentrum der Beschäftigung von Strafgefangenen und Bausoldaten. In den Braunkohle-Tagebauen, in der Elektrolyse in Bitterfeld und Buna, aber auch im Schuhkombinat Weißenfels, beim VEB Elektroinstallation Wittenberg oder dem VEB Lederwaren Zeitz mussten Häftlinge die Lücken schließen, die durch die Flucht Zehntausender nach Westen gerissen wurden.
Bereits im August 1973 hatte der Ministerrat der DDR in einer Geheimen Verschlusssache namens "B 2 - 277 / 73" die Leitlinien des Zwangsarbeitseinsatzes beschlossen. Danach sollten die Arbeitsnormen der Betriebe uneingeschränkt auch für die Strafgefangene gelten. Dafür mussten die Betriebe zwar den vollen Bruttolohn zahlen. Allerdings gingen davon nur 18 Prozent an die Gefangenen, den Rest vereinnahmte das DDR-Innenministerium zur "Deckung der Haftkosten". Auch die 18 Prozent Auszahlung an die Häftlinge waren jedoch nach den Recherchen von Justus Vesting nur eine theoretische Größe - ein großer Teil davon sei für offene Unterhaltszahlungen oder die Begleichung anderer Verbindlichkeiten verbraucht worden.
Für die Betriebe wurden die unfreiwilligen Helfer zu Lebensrettern. Ganze Knastbezirke mit Mauern, Scheinwerfern und Stacheldraht entstanden, häufig ebenfalls kostengünstig von Gefangenen errichtet. In gefährlichen und gesundheitsschädlichen Bereichen, in die selbst mit überdurchschnittlichen Lohnangeboten nicht genügend Arbeitskräfte gelockt werden konnten, übernahmen die Sträflinge nach und nach den Gesamtbetrieb. In Bitterfeld wurde aus anfangs einer Häftlingsschicht in der Chlorelektrolyse später ein Betrieb rund um die Uhr.
Mit schwerwiegenden Folgen für die Gefangenen, aber auch für die DDR-Volkswirtschaft. "Alles dort war marode, ständig traten Natronlauge, Chlorgas und Quecksilber aus", erinnert sich ein ehemaliger Strafgefangener an seine Zeit in der Elektrolyse in Buna. Jede Woche habe es Chlor-Unfälle gegeben, Quecksilberdämpfe lagen im Raum, gesetzliche Grenzwerte wurden beständig überschritten.
Das rief nach dem Tod eines Häftlings, der sich 1980 in Bitterfeld eine Quecksilbervergiftung zugezogen hatte, schließlich sogar die Stasi auf den Plan. Die allerdings wertete den Todesfall als Ergebnis einer "vorsätzlichen Handlung des Gefangenen". Erst nach einem zweiten toten Häftling durch eine Quecksilbervergiftung in Bitterfeld und einem ersten Quecksilbertoten in Buna knapp ein Jahr später ermittelte die Kriminalpolizei und die Stasi schickte zwei Spezialisten - es herrschte Angst, im Westen könnten die Zustände in den Arbeitsknästen zum Thema werden.
Verkehrte Welt. Während die Staatssicherheit darauf drang, die Arbeitsbedingungen für die Häftlinge zu verbessern und die Blutwerte nicht nur einmal im Quartal, sondern monatlich zu kontrollieren, sträubten sich die Kombinatsdirektoren. "Dagegen protestierte nicht nur der Bitterfelder Generaldirektor, sondern auch sein Kollege aus Buna", beschreibt Justus Vesting. Dahinter stand die Angst, häufigere Kontrollen würden dazu führen, dass Gefangene wegen zu hoher Quecksilberkonzentration im Blut häufiger aus den gefährlichen Bereichen herausgelöst werden müssten. Dies werde "negative Folgen für die technologische Beherrschung der Elektrolysen" haben, argumentierten sie.
Mit Erfolg. Obwohl die vom MfS aus Angst vor einer "Diffamierung der DDR durch Westmedien" angemahnten Verbesserungen der Arbeitsbedingungen kaum vorankam, arbeiteten im Buna-Bau I54 noch bis 1986 Häftlinge - danach wurde die Anlage geschlossen. In Bitterfeld blieb das System sogar bis ganz zuletzt in Kraft. Erst im Dezember 1989 stellte der berüchtigte Chlorbetrieb I die Arbeit ein.
Zwangsarbeit im Chemiedreieck, Justus Vesting, Christoph Links Verlag, 24.90 Euro