Prozess gegen Adrian Ursache Prozess gegen Adrian Ursache: Neue Rätsel nach Befragung eines Rechtsmediziners

Halle (Saale) - Als der Angeklagte beginnt, sich das Hemd vom Oberkörper zu streifen, scheint das erst wie ein neues Kapitel Aberwitz im Verfahren wegen versuchten Mordes, in dem sich der aus Reuden im Burgenland stammende Adrian Virgil Ursache seit Oktober vergangenen Jahres verantworten muss. Der 43-Jährige, von den Behörden als Reichsbürger eingeordnet, sucht immer mal wieder das Spektakel, er erschien schon verkleidet und wedelte mit der DDR-Verfassung.
Sein Striptease aber hat diesmal einen sachlichen Grund: Ursache konfrontiert einen zum wiederholten Male geladenen Rechtsmediziner mit den Narben, die er seit dem Tag seiner mutmaßlichen Tat über den Oberkörper verteilt trägt. Vier Kugeln aus einer Polizeiwaffe hatten den selbsternannten Gründer des Fantasiestaates Ur damals getroffen, sieben Narben weist Ursache mit einigem Stolz vor. Thema des Tages ist das Trefferbild, das nach acht Monaten Prozessdauer überraschende Fragen aufwirft.
Sondereinsatzkräfte traten im Verfahren nur unter ihrer Dienstnummer auf
Denn Marko Weber vom Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Halle, der Ursaches Wunden unmittelbar nach der Schießerei im Hof des Hauses der Familie Ursache im Krankenhaus hatte begutachten können, kann das von mehreren SEK-Beamten im Zeugenstand geschilderte Geschehen und die Lage der heute noch zu sehenden Narben nicht in Übereinstimmung bringen.
So hatte der im Prozessverlauf als Schütze identifizierte Beamte ST321 – alle Sondereinsatzkräfte traten im Verfahren nur unter ihrer Dienstnummer auf – angegeben, er habe beim Showdown von Ursache aus gesehen links gestanden. Etwa vier Minuten lang hatten ST321 und drei weitere Beamte Ursache aufgefordert, seinen Revolver niederzulegen und sich zu ergeben. Ursache seinerseits hatte die Polizisten ebenfalls aufgefordert, ihre Waffen wegzustecken oder ihn zu erschießen.
Polizeieinsatz in Reuden: Zweimal drückte ST321 ab
Als sich der wegen einer verweigerten Räumung des zwangsversteigerten Hauses der Familie ins Visier der Behörden gerückte frühere „Mister Germany“ nach rechts abgedreht und kurzzeitig nicht mehr direkt auf seine Kollegen gezielt habe, so ST321, habe er dann geschossen. Ziel sei es gewesen, die von ihm eingeschätzte „akute Bedrohungslage“ zu beenden.
Zweimal drückte ST321 ab, in vor Gericht vorgeführten Aufnahmen von sogenannten Bodycams von Polizisten sind diese zwei Schüsse zu hören. Sekundenbruchteile danach folgt ein Schussgeräusch mit anderem Klang, weitere Sekundenbruchteile später feuern noch einmal Pistolen, die genauso klingen wie Waffe Marke Glock, die das SEK verwendet.
Polizeieinsatz in Reuden: Schusswechsel dauerte kaum vier Sekunden
Alles in allem dauerte der Schusswechsel kaum vier Sekunden. Doch auch 22 Monate nach dem Geschehen werfen die neue Rätsel auf: Denn die Schüsse, die Ursache trafen, kamen offenbar nicht von links, wo ST321 nach eigener Aussage stand. Sondern von rechts, wie Marko Weber aus den medizinischen Unterlagen schließt. Ursaches rechter Unterarm sei auf der Oberseite getroffen und durchschlagen worden.
Anschließend sei das Geschoss weitergeflogen und habe Ursache linke Schulter getroffen. Auch ein zweiter Einschuss am rechten Oberarm weist auf diese Schussrichtung hin: Auch hier liegt die Eintrittsnarbe außen am Bizeps, die Kugel wurde von den Leipziger Chirurgen im Schulterbereich am Rücken Ursaches gefunden.
Adrian Ursache selbst nimmt den Gutachter ins Verhör
Ursache selbst nimmt den Gutachter ins Verhör. Wie er sich diese Einschläge erklären könne, will der am letzten Verhandlungstag von einem psychiatrischen Gutachter als schuldfähig eingestufte Angeklagte wissen. Weber schüttelt den Kopf. „In die rechte Schulter kann der Beamte nicht geschossen haben“, ist der 47-Jährige sich sicher, nachdem er Ursaches Narben in einer Verhandlungspause mit den vorliegenden Fotos nach der Operation vor zwei Jahren verglichen hat.
Neue Ungewissheit in einem Prozess, der eigentlich schon im März auf der Zielgerade schien. Der Vorwurf der Anklageschrift, Ursache habe den Schusswechsel eröffnet, war durch Video- und Tonaufnahmen, aber auch durch Zeugenaussagen widerlegt worden. Umstritten zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung war nur noch die Frage, ob der bereits von zwei Kugeln getroffene Angeklagte noch wissentlich und willentlich zurückschoss. Oder, wie Adrian Ursache behauptet, bereits alle Steuerungsfähigkeit verloren hatte und sich ein Schuss aus seinem Revolver löste, als er zusammenbrach.
Marko Weber kann diese Frage auch heute nicht beantworten. Es sei möglich, dass Menschen auch nach mehreren schweren Treffern noch in der Lage zu koordiniertem Handeln seien. „Genauso gut ist es aber denkbar, dass eine Steuerung in diesem Fall noch möglich war.“ (mz)