In vino veritas In vino veritas : Wein mit Aussicht

Am 3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit, findet er wieder statt: der Weinwandertag im Blütengrund. Dann öffnen auch sonst geschlossene Weingärten ihre Pforten und geben - bei leckeren Weinen und Sekten - den atemberaubenden Blick gen Naumburg frei, über Saale, Unstrut und deren Zusammenfluss. Einer, der auch sonst in der Saison - streng nach den Regeln für eine Straußwirtschaft - seinen Besen ausgehängt hat, ist Diethart Brüning. Gemeinsam mit seiner Frau Emilia bewirtschaftet er den „Präsidentenberg“; bestockt mit 925 Reben, vor allem Roter Gutedel, Weißburgunder, Müller-Thurgau und Spätburgunder. Die Ernte geht seit 2008 ein ins Lesegut der Naumburger Weinbaugesellschaft, die daraus im Landesweingut Kloster Pforta sortenreine rote und weiße Tropfen keltert. Soweit, so unspektakulär.
Aber, hat man erst einmal den Anstieg ganz nach oben geschafft auf den Kammweg über dem Blütengrund (in Nachbarschaft zum Weinhaus Heft), trifft man im „Weingarten Präsidentenberg“ nicht nur einen eloquenten und unterhaltsamen Hobbywinzer nebst sympathischer Frau, sondern bekommt auch manch Geschichte zu hören - beispielsweise warum der Berg (der zur Einzellage Naumburger Sonneck gehört) so heißt, wie er heißt. Er gehörte seit 1816 nämlich dem allerersten Präsidenten des 1. Preußischen Oberlandesgerichts in Naumburg, Gustav Wilhelm Freiherr von Gaertner - aber mal ehrlich: „Gärtnerberg“ hätte doch irgendwie poplig geklungen, oder? Egal wie: Nicht der Gerichtspräsident gelangte zu Weltruhm, sondern einer aus der Familie der Bewirtschafter des Bergs: Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder. Dessen Ururgroßvater schuftete nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts in den Rebanlagen, in denen heute die Brünings den Rücken krumm machen. Altkanzler Schröder war übrigens nie auf dem Präsidentenberg; vielleicht wusste er, dass sein Vorfahre August Schröder keine ganz blütenreine Winzer-Weste hatte und mit ihm kein Staat (Wahlkampf) zu machen war.
Diethart Brüning - der übrigens nicht mit dem einstigen Reichskanzler Heinrich Brüning verwandt ist - kehrte nach der Wende aus Bonn in die Heimat seiner Ahnen zurück. Die hatten den 3,8 Hektar großen Präsidentenberg 1918 erworben. Das Erbe des Großvaters wog schwer: das Grundstück eine Müllhalde, das Haus eine Ruine, die Rebstöcke verwildert oder zerstört, die Eigentumsstreitigkeiten eine Goldgrube für Advokaten. Wer heute mit den bescheidenen Brünings zusammensitzt merkt schnell: Streit ist ihnen zuwider; knallharte „Wessis“ hätten wohl (teuren, aber) kurzen Prozess gemacht und sich nicht mit weniger als der Hälfte ihres Besitzes abgefunden, des lieben Friedens willen. Dennoch: die Brünings sind zutiefst dankbar für Wende und Einheit. Beides hat nicht nur dem familieneigenen Präsidentenberg eine Wiederauferstehung ermöglicht, sondern den zwei Senioren auch Sinn, Inhalt und Heimat für den letzten Lebensabschnitt gegeben.
Dabei hatten Brünings von Weinbau zunächst keinen Schimmer: Sie als Dolmetscherin und er als Besitzer einer Firma für feuerfeste Erzeugnisse haben sich im Präsidentenberg über die Jahre ihr Weinwissen selbst an-gearbeitet. Der Lieblingsspruch des heute 75-jährigen Diethart lautet nicht umsonst: „Lese bildet“. Diesen Jahrgang mitgerechnet, sind sie nun bei Lektion 12. Und die sagt für 2020, dass nach drei Dürrejahren in Folge Neupflanzungen im Steilhang keine Wasserschicht mehr erreichen und schlichtweg verdursten. Mit Weinbau im entfernteren Sinn zu tun hat zumindest Emilia: Ihre Großeltern waren Winzer in Nord-Bulgarien. Einige, im Weingarten zur Zierde gepflanzte autochthone Rebsorten erinnern sie heute an ihre Wurzeln. Und in der treffsicheren Ausstattung der Straußwirtschaft meint man das weibliche Gegenstück zum Diplomingenieur und Hobbyhistoriker zu erkennen.
Sollte Sie der Weinwandertag im Blütengrund zum „Weingarten Präsidentenberg“ führen, bringen Sie - neben ordentlich Weindurst - möglichst viel Zeit und eine Uhr mit: Sie glauben nicht, wie schnell die Stunden vergehen, wenn Sie erstmal mit Brünings ins Plaudern kommen! 30 Jahre Einheit und mehr als zwei Jahrhunderte Präsidenten(wein)berg bergen unendlich viel Gesprächsstoff. Und wenn dann noch der Wein mundet...