Baden-Württemberg Baden-Württemberg: Haseloff wirbt in Stuttgart für Sachsen-Anhalt

STUTTGART/MZ. - Gerlinde Kretschmann ist nicht zum gemeinsamen Frühstück erschienen. Um kurz nach halb sieben betritt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Dienstag ohne seine Gattin den Salon eines Stuttgarter Hotels in Sichtweite der Baugrube für den umstrittenen Bahnhofsneubau. Wo seine Frau bleibe, wird Kretschmann gefragt: „Och, die isch noch im Bett“, schwäbelt der Landesvater mürrisch. Sein sachsen-anhaltisches Pendant, Reiner Haseloff (CDU), sitzt da schon mit Gattin Gabriele am Frühstückstisch. Lächelnd. Und beobachtet von vier Kamerateams und mehr als 30 Journalisten. Ein weiterer Punktsieg für Haseloff bei seiner West-Werbetour in Baden-Württemberg.
Vor gut einem dreiviertel Jahr hatte Haseloff verkündet, er werde persönlich abgewanderte Landeskinder nach Sachsen-Anhalt zurückholen. Der dramatische Rückgang der Einwohnerzahl und der letztlich daraus resultierende Fachkräftemangel ließen aus Haseloffs Sicht keinen Plan als zu absurd erscheinen. Die Stammtischrunde wurde erst als Schnapsidee belächelt und dann immer mehr kritisiert. Zuletzt hatten Haseloffs Vorgänger Wolfgang Böhmer (CDU) und die Stuttgarter Handwerkskammer die (Ab-)Werbetour kritisiert. In Haseloffs eigenem Kabinett, wo das Thema kaum besprochen wurde, schütteln viele Minister den Kopf. Haseloff ficht das nicht an: Allen Unkenrufen zum Trotz hat er sich Anfang dieser Woche tatsächlich auf den Weg nach Stuttgart gemacht.
Saal platzt aus allen Nähten
Am Montagabend strahlt Haseloff wie ein Schneekönig, als er in einem Restaurant neben dem Stuttgarter Prachtboulevard, der Königstraße, jede Menge Gäste begrüßen kann. Der kleine Saal platzt aus allen Nähten, neben etlichen Baden-Württemberger Mittelständlern ist auch gut ein Dutzend Ex-Sachsen-Anhalter gekommen. Und das, obwohl „ich keine Rückkehrprämie anbieten kann und will“, so Haseloff. Es sind fast alles junge Leute, der älteste ist Jörg Smoczyk aus Thale mit 41. Den Elektroingenieur hat ebenso die Neugierde getrieben wie das Geschwisterpaar Andrea und Antje aus Cobbelsdorf nahe Haseloffs Heimatstadt Wittenberg. Beide leben seit Jahren in Stuttgart - und möchten ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen.„Unsere Mutter hat uns einen Artikel aus der MZ geschickt, dass Haseloff kommt“, erzählt Andrea. Rückkehr? Komme für sie nicht in Frage. Die 28-Jährige ist Ingenieurin für Luft- und Raumfahrttechnik, in der Branche gibt es keine Jobs im Land der Frühaufsteher. Bei Smoczyk ist es ähnlich: Er ist 2001 nach Stuttgart gegangen, weil er als junger Hochschulabsolvent einen gut dotierten Job in der Verwaltung bekam. In Sachsen-Anhalt wäre seine Karriere - er ist Sachgebietsleiter Elektrotechnik im Stuttgarter Tiefbauamt - kaum denkbar. Inzwischen geht sein Sohn in der Landeshauptstadt zur Schule.
Für die jüngere der beiden Schwestern aus Cobbelsdorf ist die Lage anders: Die 23-jährige Mathematikstudentin kann sich vorstellen, nach dem Studium überall hinzugehen - „auch zurück nach Sachsen-Anhalt“, erzählt sie. „Und unsere Mutter würde das auch gerne sehen“, ergänzt Schwester Andrea.
Probleme beim Nahverkehr
Doch es gebe im Land der Frühaufsteher noch immer viele Unwägbarkeiten: Der öffentliche Nahverkehr etwa, sagt Andrea: „Auf dem Land ist man ohne Auto abgehängt.“ Wie will man da die Kinder in die Kita bringen, fragt sie. Und die Unsicherheit in den Betrieben. „Ist denn da überhaupt genug Substanz, damit sie nicht bei der nächsten Krise krachen gehen“, fragt der aus Halle stammende Daniel Dierichen. Haseloff beruhigt: Nach schwierigen Anfangsjahren gebe es heute eine „sehr solide Grundstruktur“ in der Wirtschaft. Und 11 000 freie Stellen. Quasi zwei für jeden der rund 6 000 Sachsen-Anhalter, die regelmäßig nach Baden-Württemberg pendeln.
Haseloff räumt ein, dass er nicht mit einem Bus gekommen sei, um noch an diesem Abend die ersten 40 Rückkehrwilligen wieder nach Hause zu holen. „Darum geht es mir auch gar nicht.“ Sondern um die mediale Aufmerksamkeit. Wer hätte das gedacht. Plötzlich sei Sachsen-Anhalt - für zwei Drittel der Baden-Württemberger noch ein weißer Fleck auf der Landkarte - in aller Munde, freut sich Haseloff. Das stimmt: Haseloffs Fahrer etwa werden die Autogrammkarten seines Chefs in Stuttgart aus den Händen gerissen. „Doch, wir kennen den“, beteuern zwei junge Männer am Dienstag vor dem Hotel, in dem Haseloff mit Kretschmann frühstückt.
Für Begeisterung kann Haseloff dann auch bei wenigstens einem Sachsen-Anhalter in Stuttgart sorgen: Der Hallenser Stefan Hofmüller (33), der vor drei Jahren nach Stuttgart zog, will Ende des Jahres in seine Heimat zurückkehren. Seine Firma, ein großes Datenverarbeitungsunternehmen, hat dort eine Zweigstelle. Einen Job für Hofmüllers Frau kann Haseloff zwar noch nicht bieten, wohl aber will er bei der Suche nach einem Kindergarten-Platz helfen. Hofmüller erzählt, dass er mit seinem Wunsch in der Stadtverwaltung Halle abgeblitzt sei - nun will sich Haseloff einschalten. Um genau solche Paketlösungen gehe es, sagt auch Luft- und Raumfahrttechnikerin Andrea, damit Rückkehrwillige angesprochen würden.
Geteiltes Echo
Die Meinungen über Haseloffs Aktion fallen derweil im Süden geteilt aus: Journalisten bezeichnen sie als „grenzwertig“, einige Sachsen-Anhalt-Pendler als reine PR-Aktion. Andere, wie Dierichen, sind begeistert: „Ich finde super, wie er das macht und nicht als Bittsteller daher kommt.“ Und Regierungschef Kretschmann, was sagt er zur Fachkräfte-Wilderei seines Amtsbruders aus dem Osten? „Das ist völlig in Ordnung“, erklärt er beim Frühstück. Solange es fair bleibe, habe er gegen den Wettbewerb um gute Leute nichts einzuwenden. Und überhaupt, Sachsen-Anhalt: „Das ist doch gar nicht unser Problem. Das Problem sind doch unsere Nachbarn, die Bayern.“ Dass der Wettbewerb um Arbeitskräfte härter wird, berichtet der Ex-Sachsen-Anhalter Jörg Smoczyk: Man habe gerade einen Elektriker eingestellt, obwohl der keine Zeugnisse vorgelegt habe. „Die waren zu schlecht, aber wir kriegen einfach keine Leute.“ Zur Ehrenrettung der Sachsen-Anhalter sei festgehalten: Der Mann stammte aus einem anderen Bundesland.