Artikel aus der MZ vom 24. September 1990 Artikel aus der MZ vom 24. September 1990: Hungerdrama bei Bergleuten in Rottleberode

Rottleberode/Straßberg - Die Auseinandersetzung um eine Abfindung analog der Bergleute des Mansfelder Kupferbergbaureviers und der SDAG Wismut auch für die Bergleute der Flußspat GmbH Rottleberode hat sich am Wochenende weiter zugespitzt. Seit Freitag, 6 Uhr, sind die Kumpel in den Gruben Rottleberode und Straßberg in einem unbefristeten Hungerstreik. Die streikenden Bergleute sind fest entschlossen, die äußerste Kampfmaßnahme bis zu einer bindendenden Zusage zur sozialen Gleichstellung weiterzuführen.
Entschlossene Kumpel
Das Szenarium des Wochenendes auf den Schächten in Rottleberode und Straßberg: Als am späten Freitagabend der Stellvertreter des Regierungsbevollmächtigten für den Bezirk Halle, Dr. Wolfgang Süß, und Sangerhausens. Landrat Dr. Volker Pietsoh die Kumpel in Rottleberode mit der Zusage verlassen, mit der Regierung Verbindung aufzunehmen, um einen kompetenten Regierungsvertreter zum Ort des Geschehens zu bitten, keimt ein Hoffnungsschimmer.
Doch bis zum Sonnabendvormittag ist aus Berlin noch keine Reaktion gekommen. Inzwischen ist der Sangerhäuser Volkskammerabgeordnete Dr. Klaus-Otto Zirkler (F.D.P.) in Rottleberode eingetroffen und versucht telefonisch mit der Regierung Kontakt aufzunehmen. Seine Bemühungen bleiben erfolglos.
Nach 30 Stunden Hungerstreik sind Entschlossenheit und Einigkeit der Kumpel ungebrochen. Sie nehmen Säfte, Tee und ab und zu ein wenig Brühe zu sich. Betriebsarzt Dr. Wolfgang Enke betreut die Kumpel medizinisch, Krankenschwestern messen Blutdruck. Einem Kumpel, Diabetiker, wird empfohlen, den Hungerstreik abzubrechen.
12 Uhr. Eine Stunde früher als angekündigt, trifft Hans Modrow in Rottleberode ein. Was Dr. Klaus-Otto Zirkler nicht alleingelang, hat mit Modrows Unterstützung Erfolg: Der Kontakt zu Berlin ist hergestellt, man erhält die Zusage, daß Lothar de Maiziere informiert wird. Modrow kritisiert vor den Kumpeln die Regierung, die nicht mit der notwendigen Konsequenz gehandelt habe. Über seine Volkskammerfraktion würde er die Rechte der Bergleute einklagen. Modrow und Zirkler sind sich einig: Die Kumpel brauchen so schnell wie möglich verbindliche Zusagen.
Roßlebener ziehen mit
Am Nachmittag ein Signal aus Berlin: Staatssekretär Dieter Prietzel vom Wirtschaftsministerium wird zwischen 19 und 20 Uhr in Rottleberode eintreffen.
18 Uhr. Skepsis bei den Kumpeln. Wird der Staatssekretär Lösungen auf den Tisch legen können? Klaus Jäger, zwei Jahrzehnte im Schacht, bestätigt, was alle denken upd fühlen: Wir sind gewillt, den Arbeitskampf bis zum Äußersten durchzuziehen.
Kurz nach 20 Uhr. Staatssekretär Prietzel trifft ein. Verhandelt wird in Straßberg, von 20.45 Uhr bis 23.30 Uhr unter Ausschluß der Öffentlichkeit (auch der Presse). Erbost über die lange zeit, versuchen aufgebrachte Bergleute in den Verhandlungsraum zu kommen. Sie werden vertröstet. Wenig später verkündet der Staatssekretär das Ergebnis: Der Staatssekretär unterstützt die Forderungen. Am Montag werde darüber mit dem Bundeswirtschaftsministerium verhandelt. Die Forderungen der Bergleute würden dort eingebracht. Mit der Bitte, den Hungerstreik abzubrechen, hat der Staatssekretär wenig Erfolg.
0.30 Uhr wieder in Rottleberode. Viele Kumpel haben sich einen Schlafplatz auf Luftmatratzen, Sesseln oder auf Schreibtischen gesucht. Doch schnell hat sich herumgesprochen, daß der Staatssekretär wieder eingetroffen ist. Minuten später ist der Speiseraum wieder voll. Als das Ergebnis der Verhandlungen auch hier mitgeteilt wird, die gleiche Reaktion: Die Zusage reicht nicht. Sonntagvormittag. Weitere zwei Bergleute müssen den Hungerstreik abbrechen. Arzt und Krankenschwestern haben viel zu tun. Der Sprecherrat nimmt Kontakt mit dem Bundeskanzleramt in Bonn auf. Bundeskanzler Kohl sei in Magdeburg. Vielleicht ist ein "Abstecher" nach Rottleberode möglich. Die Bergleute hoffen weiter... Am Nachmittag findet in Straßberg eine Solikundgebung mit den Ehefrauen Solidarisches 'mächt "sleK'äänn noch" einmal Breit? Wie "zu erfahren ist werden sich heute 200 Kollegen des Kaliwerkes Roßleben mit den Kollegen von Straßberg und Rottleberode solidarisieren und in einen Warnstreik treten. Falls die Verhandlungen keinen Erfolg bringen, will man zum Hungerstreik übergehen. In Berlin wird heute eine Abordnung des Sprecherrates versuchen, den Forderungen der Kumpel Nachdruck zu verleihen. Der Überlebenskampf geht weiter. (mz)