Anti-Atom-Demo Anti-Atom-Demo: Barfuß im Regierungsviertel
BERLIN/MZ. - Am Vortag hat er sichnoch Schuhe gekauft, aber sie drücken. WolfgangNowak hat sie deshalb im Bus gelassen, mitdem er aus Oldenburg gekommen ist. Nun stehtder 52-jährige EDV-Fachmann barfuß in derMenschenmenge vorm Berliner Hauptbahnhof."Man muss Prioritäten setzen", sagt er. DieDemo ist wichtiger als Schuhe. Hinter ihmströmen immer mehr Menschen aus dem Bahnhof:junge Leute mit Greenpeace-Jacken, Familienmit Kinderwagen, Rentner.
Drei Sonderzüge und mehr als 150 Busse sindaus ganz Deutschland angerollt. Die Menschenwollen ihrer Empörung über die Verlängerungender Laufzeiten von Atomkraftwerken Luft machen."Atomkraft: Schluss jetzt!" ist das Mottoder Demonstration. Auf dem Bahnhofsplatz wehtein Meer von gelben Fahnen mit roter Sonne,das Symbol der Anti-Atom-Bewegung der 80erJahre. Pfeifen und Vuvuzelas lärmen. Aus denBoxen tönen Lieder der Band Bots, eine ArtVeteranengruppe der Bewegung.
Falls es nach der Menschenkette in Norddeutschlandim April und den jüngsten Protesten um Gorlebennoch Zweifel gab, zeigt sich am Sonnabendin Berlin: Die Anti-Atomkraft-Bewegung istwieder da. Und sie ist stärker als viele erwartethaben. Hunderttausend Menschen zählen dieVeranstalter, ein Bündnis aus 18 Organisationen.Die Polizei schätzt die Zahl auf mehrere Zehntausend.Ziel war es, das Regierungsviertel zu umzingeln.Der Ring aus Menschen ist schon geschlossen,da sind Tausende am Bahnhof noch gar nichtlosgelaufen.
Jochen Stay, einer der Organisatoren, stehtwährend der Demo auf einer Spree-Brücke undüberblickt erfreut die Menschenmenge. Wiebeim Protest gegen die Stuttgarter Bahnhofsplänezeige sich: "Die Leute geben sich nicht damitzufrieden, alle vier Jahre mal ein Kreuzchenzu machen", sagt er. An der Spitze des Zugsfahren Bauern aus Niedersachsen mit Treckern,es folgen Wagen der SPD, Grünen und Linken,von Greenpeace und der Initiative "Ausgestrahlt".
Oppositionspolitiker marschieren mit, darunterSigmar Gabriel (SPD), Renate Künast (Grüne)und Gregor Gysi (Linke). Vielen Demonstrantenist Parteipolitik aber egal. "Wir müssen unserSchicksal selber in die Hand nehmen", sagtBernhard von Czettritz, ein 24-jähriger Student."Atomkraft ins Technikmuseum", "Merkel, duAtomkraftferkel", "Biomasse statt Atom-Asse"ist auf Transparenten und T-Shirts zu lesen.
Auf der Straße sind nicht nur alte Anti-Atomkraft-Kämpferwie Wolfgang Nowak, der seit 1979 kaum eineDemo auslässt, wie er sagt. Der Protest wirdvon mehreren Generationen getragen. Die 13-jährigeBaro aus Berlin-Neukölln etwa ist mit Mutter,Großmutter und Geschwistern da, außerdem sindFreunde aus Halle und Oldenburg angereist.Aus Dosen haben sie kleine Atommüllbehältergebastelt, die wollen sie später auf einemsymbolischen Müllberg ablegen.
"Ich bin alt, mir kann es ja eigentlich egalsein", sagt Baros 71 Jahre alte Großmutter:"Aber meine Enkel werden für die Atompolitikbüßen müssen." Die 13-Jährige sagt: "Ich findeAtomenergie nicht richtig, weil es keine Lösungfür die Sicherheit und den Müll gibt." Dassdie Laufzeit der Meiler um acht bis 14 Jahreverlängert wurde, hat die ganze Familie empört."Es ist eine Unverschämtheit, wie das durchgezogenwurde", sagt Baros Mutter.
Drei vermummte Männer, die Steine aufheben,werden vorübergehend festgenommen, meldetdie Polizei. Ansonsten ist der Protest friedlich.Als Demonstranten die abgesperrte Wiese vormReichstag stürmen, lässt die Polizei sie weitgehendgewähren. Auf den Treppen zum Reichstag versammelnsich Menschen, skandieren "Abschalten!" undhissen Transparente. Die Bannmeile ist aufgehoben.Am Kanzleramt werfen Demonstranten Dosen überden Zaun.
Auf der Bühne schwören Redner die Menschenschon auf die nächsten Demos ein. Ein Treffpunktwird im November das Wendland sein, wo einCastor-Transport verhindert werden soll. Baround ihre Familie wollen kommen. Ebenso WolfgangNowak. Dann aber mit anderen Schuhen.