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20 Jahre Sachsen-Anhalt 20 Jahre Sachsen-Anhalt: Karl-Hermann Steinberg - Fürst ohne Land

Von ALEXANDER SCHIERHOLZ 13.10.2010, 18:13

MERSEBURG/MZ. - Welche Aufgaben er hatte in jenen September- und Oktobertagen vor 20 Jahren, das wird am besten deutlich, indem man beschreibt, was er nicht durfte: "Ich hatte keine Vollmachten", sagt Karl-Hermann Steinberg, "ich konnte nichts beschließen. Und einen Landtag, der etwas hätte beschließen können, gab es noch nicht." Steinberg also ist kurz vor der Wiedergründung des Landes Sachsen-Anhalt ein Fürst ohne Land. Trotzdem trägt er damals den Titel "Landesbevollmächtigter".

Rückblick: Im Mai 1990 beschließt die DDR-Volkskammer die Neugründung der Länder. Ende August steht der Beschluss zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik auf der Tagesordnung. Schon kurz vorher setzt die Regierung de Maizière Landesbevollmächtigte ein, einen für jedes neue Bundesland. Sie sollen den Aufbau der Landesverwaltungen vorbereiten.

Dass Steinberg, Chemieprofessor und zu Hause in Merseburg, das Amt in Sachsen-Anhalt erhält, ist dem Streit zweier anderer Kandidaten geschuldet: Noch gibt es die 15 DDR-Bezirke, auch dort hat das Kabinett de Maizière Statthalter eingesetzt. Aus ihrer Mitte sollen die Bevollmächtigten kommen. Überall einigen sich die Betreffenden, erinnert Steinberg sich, nur in Sachsen-Anhalt nicht. "Also hat de Maizère mich gefragt. Und ich habe dummerweise ja gesagt."

Eine folgenschwere Entscheidung. "Ich habe gedacht", blickt der heute 69-Jährige zurück, "ich könnte das quasi nebenbei erledigen. Dabei war es ein Vollzeitjob." Den aber hat Steinberg schon: Der Wissenschaftler ist auch noch Umweltminister im Kabinett de Maizière. Fortan arbeitet er "fünf Tage für die DDR und zwei Tage für das Land - es war eine belastende Zeit". Das künftige Partnerland Niedersachsen schickt ihm zehn Berater. Er hat einen persönlichen Referenten und zwei Sekretärinnen - die eine in Halle, die andere in Magdeburg. "Das war mein Stab", sagt Steinberg. "Wir haben versucht, die Verwaltung eines Bundeslandes neu aufzubauen, und das praktisch in einem rechtsfreien Raum."

Im Westen ist damals offenbar nicht jedem klar, was das bedeutet. Nachdem die Volkskammer den Beitritt zur Bundesrepublik beschlossen hat, müssen die Landesbevollmächtigten einmal pro Woche in Bonn antreten. Dort tagt eine Staatssekretärsrunde, die den Neulingen aus dem Osten erklärt, welche Verordnungen und Gesetze wie umzusetzen sind. "Für uns war das wie Antreten zum Befehlsempfang."

Welten treffen aufeinander: hier die Ostdeutschen, die mit Improvisationsgeschick dafür sorgen müssen, dass in der Zeit des Übergangs das öffentliche Leben nicht völlig zum Erliegen kommt. Und da die westdeutschen Beamten, die sich eine solche Situation offenbar gar nicht vorstellen können. "Ich habe denen jede Woche gesagt, dass wir noch gar keinen Regierungsapparat haben", erinnert sich Steinberg.

Genützt hat es offenbar wenig. Steinberg erzählt von Klaus Kinkel, dem späteren Bundesaußenminister, damals in Bonn noch Staatssekretär im Justizministerium: "Er hat jede Woche 600 Seiten Telex geschickt, die habe ich einfach abheften lassen."

Auch die Geschichte von Steinbergs Wunsch nach einem Arbeitsvertrag illustriert gut, wie sehr westdeutsche Erwartungen und ostdeutsche Realität im Spätsommer 1990 auseinanderklaffen: Anfangs leitet der heutige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Staatssekretärsrunde. "Ich habe ihn um einen Vertrag gebeten", erzählt Steinberg, "ich wollte klar geregelt wissen, welche Rechte und Pflichten ich als Bevollmächtigter habe." Mehrere Wochen tut sich nichts. Schließlich erhält der Merseburger einen Brief des Kanzleramtsministers Rudolf Seiters: Zuständig sei das Land Sachsen-Anhalt, schreibt der Niedersachse - ein Land, das es noch gar nicht gibt. Viel geht durcheinander in jenen Wochen. Aber es läuft trotzdem. Irgendwie. "Wer meine Flüge nach Bonn bezahlt hat", sagt Steinberg, "das weiß ich bis heute nicht." Es habe ihn aber auch nicht interessiert, "wir hatten genügend andere Probleme".

Zu tun ist genug wenige Wochen vor der Neugründung des Landes - und viele wollen dabei sein. Mehr als 6 000 Bewerbungen für Stellen in der Verwaltung liegen vor, noch ehe Steinberg sein Amt angetreten hat. Und dann sind da die vielen Kleinigkeiten. Die Feuerwehrschule nahe Magdeburg steht vor dem Aus - Steinberg sorgt dafür, dass sie offen bleibt. Auf einer Müllkippe bei Halle werden Gerichtsakten entdeckt - Steinberg lässt Führungspersonal im damaligen Bezirksgericht Halle absetzen.

Steinberg ist zwar ein Machertyp, auch in jenen Spätsommertagen 1990. Wirklich weit reichende Entscheidungen trifft er aber nicht. Die sollen dem Landtag vorbehalten bleiben. Mit dem 14. und dem 28. Oktober 1990 stehen die Termine für dessen Wahl und konstituierende Sitzung schon fest.

So überlässt der Landesbevollmächtigte auch die Hauptstadtfrage dem künftigen Parlament. Das entscheidet sich am 28. Oktober mit 57 zu 49 Stimmen für Magdeburg. Steinberg sagt heute, ihm sei vorher klar gewesen, dass es so ausgehen werde. "Die Niedersachsen wollten über die A 2 einen kurzen Weg haben, das hätte ich vielleicht genauso gemacht." Dennoch, ein wenig nagt es noch an ihm, dass Halle seinerzeit unterlegen ist. Nicht nur, weil er seit Jahrzehnten in Merseburg und damit praktisch um die Ecke wohnt. Seinem Gefühl nach, sagt er, sei doch Halle damals das geistige und kulturelle Zentrum des Landes gewesen.

In der konstituierenden Landtagssitzung am 28. Oktober wird auch der CDU-Mann Gerd Gies zum ersten Ministerpräsidenten gewählt. Am Tag darauf übergibt Steinberg ihm die Amtsgeschäfte. In diesem Zusammenhang muss irgendwie die Geschichte mit dem Koffer entstanden sein. Demnach soll der Landesbevollmächtigte dem neuen Regierungschef einfach einen Aktenkoffer mit Unterlagen überreicht haben.

Ein Koffer! Steinberg muss heute noch lachen, wenn er das hört. Es waren, sagt er, mehrere Umzugskartons voll mit unerledigten Vorgängen, "alles in allem vielleicht hundert Kilo". Zur Amtsübergabe, erinnert er sich, habe Gies vier Fernsehteams bestellt. "Ich wusste das nicht." Es ist nicht nur der Beginn einer neuen Ära, sondern auch der Mediendemokratie.

In der Politik ist der Chemieprofessor nicht geblieben, er hat sich wieder den Naturwissenschaften zugewandt. Seine Begründung dafür fällt so nüchtern aus, wie es sich für seine Profession wohl gehört: "In der Politik", sagt er, "müssen Sie Freude an der Macht mitbringen, die habe ich nicht." Und außerdem, sagt er, habe er seine Aufgabe als erfüllt angesehen. "Wir haben die Demokratie erlangt, wir haben ein Land erfolgreich aufgebaut."

Darauf ist der 69-Jährige heute noch stolz. Das hat wohl auch mit seiner Familiengeschichte zu tun. Steinberg ist in Heiligenstadt im thüringischen Eichsfeld aufgewachsen. "Nach dem Krieg sind bei uns erst die Amerikaner einmarschiert, sechs Wochen später die Russen." Die Grenze, die später zur Systemgrenze werden soll, ist Alltag. Sie verschwindet erst am 3. Oktober 1990. Bei der Einheitsfeier damals in Berlin, erinnert sich Steinberg, "hatte ich Tränen in den Augen".