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Zu einer späten Stunde der Wahrheit

Von Corinna Nitz 22.02.2007, 16:31

Wittenberg/MZ. - Ach sooo! Einen Unterschied gab es: Während die spätere Kabarettistin auch andere Kinder bedachte, versorgte sich der spätere Pfarrer erst mal allein. Sagt er.

Die Offenbarung erfolgt am Dienstag zu sehr vorgerückter Stunde in der Evangelischen Akademie in Wittenberg. Dort tritt Oechelhäuser in Schorlemmers Lebensweg-Reihe auf. Der große Saal ist zum Bersten gefüllt, die Stimmung im Auditorium heiter, und auf dem Podium geht es harmonisch zu, man könnte auch sagen: vertraulich. In jedem Fall dominiert eine Atmosphäre, die den Boden für ein Gespräch bereitet, das an vielen Stellen tief schürft und an anderen ob seiner Ehrlichkeit auch abgebrühte Zeitgenossen nicht kalt lassen kann. Selbst solche nicht, die diese kleine Frau mit dem große Lachen seit 1999 auf ihre IM-Tätigkeit reduziert haben.

Damals hatte der Lauf der Welt diese Leiche aus dem Keller der Gisela Oechelhäuser ans Licht der Öffentlichkeit gespült. Danach war nichts mehr wie vorher, ist ja klar. Und auch in der Akademie nimmt dieses Kapitel breiten Raum ein. Es geht vor allem um eine Frage: Warum? Wie konnte es geschehen, dass eine Frau wie die Oechelhäuser sich dafür hergab? Der Vater: Theologe, Philosoph, bekannt mit Dietrich Bonhoeffer, aber auch: NSDAP-Mitglied. Er kehrte aus dem Krieg nicht zurück. Die Mutter: Theologin, noch zu DDR-Zeiten, die ihre vier Kinder allein aufzog mit christlichen Werten. Brüder, die aufgrund eben dieser Provenienz für sich im realexistierenden Sozialismus keine Perspektive sahen und in den Westen gingen.

Wie also konnte jemand aus so einer Familie erst in die SED eintreten und später einem Stasi-Verbindungsmann in einer muffigen Leipziger Wohnung eine Unterschrift geben? Gisela Oechelhäuser holt beim Klärungsversuch weit aus. Spricht von ihrem früh einsetzenden Bedürfnis, gemocht zu werden, auch: nützlich zu sein. Die DDR habe sie "als Sünde verstanden, die getilgt werden muss", weil auch ihr Vater in diesen Krieg gezogen war. Warum genau sie 1976 unter- und einige Jahre Berichte geschrieben hat, wird nicht deutlich. Nur dieses: Böses wollte sie keinem antun.

Okay, das haben später viele gesagt. Aber wirklich denunziert hat Oechelhäuser wohl nicht. Ein Journalist nannte, was in den Akten stand, einmal "Kantinengewäsch". Also: eher unbedeutend, wie wohl vieles, was Mielkes Stoßtrupp penibel dokumentierte, an Banalität kaum zu übertreffen war. Ob die Frau, die Deutsch und Französisch studierte, selbst Germanistik lehrte und, trotz allem, bis heute zu den erfolgreichen Kabarettistinnen gehört, ob sie jemandem geschadet hat, muss sie selbst wissen. Ihr größtes "Versagen" sei jedenfalls aus ihrer Sicht nicht die Unterschrift, sondern "die Frage, wo sie nichts gesagt hat". Und: "Dass ich aus Parteidisziplin den Kontakt zu meinen Geschwistern abgebrochen habe." Sie haben sich ausgesöhnt.

Bei solchen Geständnissen ist es im Saal der Akademie still. Und eine Nadel könnte man fallen hören, als Schorlemmer versucht, seinem Gast so etwas wie eine Entschuldigung an jene zu entlocken, die an und in der DDR gelitten haben. Aber dazu scheint Gisela Oechelhäuser nicht imstande. Fröhlich wird es erst wieder, als die Kabarettistin einen Strich unter die Lebensbeichte (nachzulesen auch im Buch "Hiergeblieben!", erschienen im Eulenspiegel Verlag) zieht und Kostproben ihres neuen Solo-Programms "Freie Radikale" abliefert. Da ist es 22.30 Uhr. Und im Saal die Leute lachen.