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Serie Serie: August Reinhards Welt

Von Ulf Rostalsky 19.12.2014, 10:28
Bernhard Krüger öffnet stilecht die Tür zum Spielzeug in der Bauschlosserei August Reinhard.
Bernhard Krüger öffnet stilecht die Tür zum Spielzeug in der Bauschlosserei August Reinhard. Thomas Klitzsch Lizenz

Gräfenhainichen - Das kurze Hallo würde nicht passen. „Guten Tag, treten Sie ein.“ Bernhard Krüger fühlt sich wohl in der Rolle August Reinhards. Der war wer im Handwerk in Gräfenhainichen vor gut 100 Jahren. Reinhard war Inhaber der Bauschlosserei und Schmiedewerkstatt, Innungsobermeister. Und er war der Bruder von Bernhard Krügers Großmutter.

Vielleicht passt der Zylinder gerade wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen perfekt. Krüger zieht den Hut, dessen Futter mit den Initialen AR bedruckt ist. „Ein echter August Reinhard“, sagt er und lädt ein zu einer Reise in der Vergangenheit. August Reinhards Welt ist heute ein Ort, in dem altes Handwerk und das Leben im Ackerbürgerstädtchen Gräfenhainichen um das Jahr 1900 präsentiert wird.

Von einem Museum möchte Krüger nicht sprechen. Zu sehr tobt das Leben im alten Reinhardschen Anwesen zwischen Markt- und Ebertstraße. Hier wird gefeiert, geforscht, gedreht. „Wir haben immer wieder Leute vom Fernsehen vor Ort. Das ist doch ein echter Schatz hier.“ Bernhard Krüger ist 70 Jahre alt. Wenn es um die Hinterlassenschaft seines Verwandten geht, kann er strahlen wie ein kleiner Junge.

Was auf den ersten Blick nicht mehr als ein Innenstadtgrundstück mit Wohnhaus und Werkstatt ist, hat es in sich. Der Verein „Historische Bauschlosserei und Schmiedewerkstadt“ hat die Zeit zurückgedreht. Seinen Mitgliedern hat die Sammelleidenschaft einer Frau geholfen. Marianne Gölicke war die Tochter August Reinhards. Zeitlebens trennte sie sich von keinem Stück, das zur Welt ihres Vaters gehörte.

„Ein echter Glücksfall für uns“, ist Bernhard Krüger überzeugt. Der Speditionskaufmann im Ruhestand ist mehr als das Double August Reinhards. Er gehört von Anfang an zum Verein, ist nach eigenem Ermessen aber nicht mehr als ein Rad von vielen. „Wir haben hier zum Beispiel Harald Fehlberg. Der ist seit sechs Jahren jeden Tag hier, kennt jeder Ecke. Das ist eine Leistung.“ Krüger will nicht im Mittelpunkt stehen. „Wir ziehen alle an einem Strang.“

Willkommen in einer anderen Welt. Die Einrichtung des Kolonialwarenladens dürfte gut und gern 100 Jahre auf dem Buckel haben. „Wenn die Dielen erzählen könnten…“ Über das geölte Holz im Verkaufsraum sind Generationen von Heidestädtern gelaufen. Sie haben damals ultramoderne und vollautomatische Mausefallen, Zigarren, Öl, Knöpfe gekauft. Kinder dürften ein Auge auf die Puppenmöbel geworfen haben.

Mit geübtem Griff schiebt Bernhard Krüger die alte Vitrine auf. Der Puppenladen bietet alles, was auch der große Laden zu bieten hat. „Zimmt“ steht auf einem Fach. Für Krüger ist klar, dass das Spielzeug wirklich alt sein muss. „Schreibt man doch schon lange anders.“ Im alten Reinhardschen Anwesen lohnt es sich, genau hinzuschauen und zu fragen. Die Vereinsmitglieder behaupten nicht, dass sie auf alle Fragen eine Antwort haben. Aber sie bemühen sich, das Bild eines gutbürgerlichen Haushalts nachzuzeichnen.

Ein altes Bild zeigt August Reinhard vor seinem Haus. „Das dort ist meine Großmutter.“ Ein kleines Mädchen sitzt auf der Straße. Bernhard Krüger kennt die Familiengeschichte. „Das war vor 1922.“ In jenem Jahr heiratete der damals 58-jährige Handwerker seine junge Frau. 1923 kam Tochter Marianne zur Welt, 1924 starb Reinhard. „Der hat in zwei Jahren alles gemacht, wofür wir 40 Jahre brauchen“, flachst Krüger, schaut sich um und zieht noch einmal den Hut. „Schön hier.“

Hinterm Kolonialwarenladen ist das Kontor des Firmenchefs. Eine Brille liegt auf einem alten Kassenbuch. Die Kiste mit den Siegeln und Petschaften steht daneben. Es scheint, als ob August Reinhard den Raum nur kurz verlassen hat. Wo er ist, bleibt offen. Vielleicht im Kinderzimmer oder in der guten Stube. Vielleicht aber auch in der Küche oder der Schmiede. Oder doch in Kalinas Schneiderwerkstatt, beim Schuster oder im Hof.

Die Vereinsmitglieder haben das Handwerk ins Haus in der Marktstraße zurückgeholt und auch in den Wohnräumen die Zeit zurückgedreht. Die Ideen gehen nicht aus. „Es melden sich immer wieder Leute, die altes Werkzeug oder andere Gegenstände aus der Zeit um 1900 haben.“

Krüger und Vereinskollegen werden nicht müde, die alten Zeitzeugen aufzuarbeiten. Sie wollen Geschichte bewahren und dem Nachwuchs zeigen, wo die Wurzeln heutiger Wirtschaft liegen. „Zukunft braucht Herkunft“, zitiert Bernhard Krüger den Wahlspruch des Vereins.

Dann ist er wieder ganz August Reinhard. Nimmt Haltung an, hebt die Hand an den Zylinder. „Danke, dass Sie hier waren.“

Die historische Bauschlosserei und Schmiedewerkstatt August Reinhard zwischen Marktstraße 10 und Friedrich-Ebert-Straße 2 in Gräfenhainichen steht Besuchern Montag bis Freitag von 9 bis 12 Uhr oder nach Vereinbarung offen. Im Netz: www.eisen-reinhard.de (mz)