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Gespräch mit Gregor Gysi Gespräch mit Gregor Gysi: Bescheiden und ironisch

Von Karina Blüthgen 19.03.2018, 11:27
Ihm hätten die Zuhörer im Stadthaus Wittenberg einen ganzen Tag zuhören können: Gregor Gysi erzählt aus seinem politischen wie privaten Leben.
Ihm hätten die Zuhörer im Stadthaus Wittenberg einen ganzen Tag zuhören können: Gregor Gysi erzählt aus seinem politischen wie privaten Leben. T. Klitzsch

Wittenberg - Wenn es eines gibt, was Gregor Gysi gut kann, dann ist das Verpacken von Kritik in Sätze, die so leicht daherkommen wie ein Kompliment. Vor allem die deutsch-deutschen Befindlichkeiten kann er scharfzüngig kommentieren und auf den Punkt bringen.

Er habe ein besonderes Verhältnis zu Bescheidenheit und Ironie, benennt der 70-Jährige den Grund. „Ich hatte immer ein bestimmtes Selbstwertgefühl. Das ist das, was die Politiker aus den alten Bundesländern nicht an mir mochten.“ Ostdeutsche hatten bescheiden, unterwürfig, unsicher zu sein.

Gregor Gysi ist all dies ganz sicher nicht. Er legt Sätze in Wunden, von denen Beteiligte bis heute nicht verstehen, warum sie entstanden sind. „Wir sind im 28. Jahr der deutschen Einheit und haben immer noch nicht die gleiche Rente und gleiche Löhne in Ost und West“, macht der Linken-Politiker und Rechtsanwalt eine ganz einfache Rechnung auf, die seinen Zuhörern gefällt.

Er weiß auch, warum sich mancher Ostdeutsche abgehängt und nicht verstanden fühlt in diesem politisch geeinten und doch so zweigeteilten Deutschland. „In der Politik und in der persönlichen Beziehung gilt, dass man irgendwann aufhören muss zu siegen. Die Bundesrepublik hat so deutlich über die DDR gesiegt, da wundert mich der Mangel an Interesse und Großmut.“

Fehler der Vereinigung

Nur einiger Punkte hätte es bedurft, die die Bundesrepublik bei der Vereinigung aus der DDR hätte übernehmen können. Ein flächendeckendes Netz von Kindergärten etwa, die nachmittägliche Betreuung an Schulen oder Kinderferienspiele. „Das gehört für mich zu einem souveränen Sieg, und es hätte die Lebensqualität im Land erhöht.“

Dass es drei Jahre nach der Wiedervereinigung ein unterschiedliches Schwulenstrafrecht in Ost- und West-Berlin gegeben habe, nennt er noch heute „grotesk“.

Gregor Gysi ist am Sonntag nach Wittenberg gekommen, um seine Autobiografie vorzustellen. „Ein Leben ist nicht genug“ heißt sie. Und anderthalb Stunden sind nicht genug, um daraus zu lesen. Der Mann auf der Bühne erzählt lieber, verflicht Persönliches mit großer Politik, ahmt ganz kurz sehr gut Helmut Kohl nach und lässt weder Europa noch Kirche aus.

Etwa ein Dreivierteljahr hat Andrea Zschoch, Leiterin der Wittenberger Thalia-Filiale, gebraucht, um Gregor Gysi in die Lutherstadt zu holen. Das aber hat sich gelohnt. Das Stadthaus ist seit Wochen bis zur letzten Reihe ausverkauft, trotz Erkältungswelle bleibt kaum ein Platz frei. Das Timing mit der Fahrt von der Leipziger Buchmesse hierher klappt, fünf Minuten vor Beginn kommt der Gast an.

Im Verlauf der folgenden etwa 100 Minuten kommt irgendwann der Journalist und Moderator Hans-Dieter Schütt kaum noch zu Wort. Gysi wechselt meist selbst zum nächsten Thema, unterhält sein Publikum prächtig, streut Ernsthaftes in Anekdoten und klammert die aktuelle Entwicklung in der Welt, die Tendenz zurück zu Nationalstaaten, nicht aus.

„Diejenigen, die diese Entwicklung nicht wollen, müssten sich zusammensetzen und reden. Das aber findet nicht statt“, bedauert er. Dazu komme, dass sich die Politik einer Sprache bediene, die der Bürger nicht mehr versteht. Deshalb sei das Establishment verhasst, „und deshalb wird der Frust zunehmen“.

Geduld beim Signieren

Sein aufgestelltes Buch hat Gregor Gysi schnell auf den Tisch gelegt, damit ihn die Menschen der ersten Reihen sehen können. Dennoch erinnert ihn Hans-Dieter Schütt, dass dies „eine knallharte Verkaufsveranstaltung“ sei, verpackt in viele launige Sätze. Zum Schluss heißt es für die Zuhörer, ebenso viel Geduld an der Garderobe wie beim Signieren aufzubringen.

Ob ihm nicht vom vielen Signieren die Hand weh tue, hat ihn eingangs der Veranstaltung Schütt gefragt. „Nein, weil ich Gysi heiße“, kommt eine schnelle Antwort. „Wenn ich Leutheusser-Schnarrenberger heißen würde, dann vielleicht.“ (mz)