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74-Jährige pflegt ihre Mutter in Weißenfels 74-Jährige pflegt ihre Mutter in Weißenfels: 100-Jährige liest 100-Jährigen

Von Klaus-Dieter Kunick 30.04.2014, 18:41
Dass Iris Selbmann (rechts) ihre Mutter Johanna Eisenschmidt pflegt, stand von Anfang an fest. Sie ist immer für sie da.
Dass Iris Selbmann (rechts) ihre Mutter Johanna Eisenschmidt pflegt, stand von Anfang an fest. Sie ist immer für sie da. Peter Lisker Lizenz

Weissenfels/MZ - „Warum soll ich so früh aufstehen?“ - Johanna Eisenschmidt schüttelt den Kopf. So, als wollte sie mit Nachdruck darauf verweisen, dass es rechtens ist, wenn sie erst um 9 Uhr aufsteht. Schließlich ist Johanna Eisenschmidt 100 Jahre alt und genießt jeden Tag. Sie wohnt zusammen mit Tochter Iris Selbmann in Weißenfels in einem Haus. „Wenn meine Mutter aufsteht, habe ich bis dahin alles fertig. Dann kann sie in Ruhe frühstücken“, erzählt die 74-Jährige und ergänzt: „Wir haben einen geregelten Tagesablauf.“

Dass Iris Selbmann ihre Mutter pflegt, habe von Anfang an festgestanden. Als vor Jahren das Eigenheim gebaut worden ist, war eine Einliegerwohnung von vornherein eingeplant. „Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, für meine Mutter da zu sein.“ Als Belastung habe sie die Pflege nie angesehen. Die bezieht sich vor allem auf das Waschen, die Haare zu kämmen oder beispielsweise auch auf das Anziehen der Strümpfe. Was ihre Mutter machen könne, das solle sie tun. Ihr alles abzunehmen, quasi jede Kleinigkeit, sei nicht Sinn der Sache.

Immer in Bewegung geblieben

Auch wenn es teilweise etwas langsamer gehe, müsse ihre Mutter, soweit es ihre Gesundheit zulasse, in Bewegung bleiben. Wie man so alt wird? Die Frage interessiert natürlich jeden. „Mein ganzes Leben bestand immer aus viel Arbeit“, erzählt die 100-Jährige. Sie sei immer in Bewegung geblieben. „Krankheiten? Kenne ich nicht“, sagt sie schmunzelnd. Aber dann fällt ihr ein, dass sie sich ja mit 99 Jahren den Oberschenkel gebrochen habe. Das sei es aber schon gewesen. „Warum sollte denn meine Mutter in ein Pflegeheim?“, fragt Tochter Iris.

Hier habe sie ihr gewohntes Zuhause, ihre vertraute Umgebung. Besser gehe es nicht. „Die Kinder haben aber auch ihr Leben, man darf ihnen nicht auf den Wecker fallen“, räumt Johanna Eisenschmidt ein. Und genau für den Fall, nämlich wenn Tochter Iris etwas vor hat, wird die Mutter in der Kurzzeitpflege auf dem Kugelberg im Servitas-Seniorenzentrum vorübergehend aufgenommen. „Da fühle ich mich wunderbar aufgehoben.“ Dort habe die Familie bereits einen Antrag auf Aufnahme gestellt, wenn der Tag X kommt, dann, wenn gar nichts mehr geht und eine Pflege zu Hause unmöglich werden sollte.

Johanna Eisenschmidt ist 100 Jahre alt geworden, sie wurde in Halle/Saale am 17. März 1914 geboren. Ihr Vater war bei der Überlandbahn (Straßenbahn) in Halle angestellt, ihre Mutter Hausfrau. Nach dem Besuch der 8. Klasse erlernte sie den Beruf einer Schneiderin, 1947 legte sie ihre Meisterprüfung ab und arbeitete in Weißenfels in ihrem Beruf bis zur Rente. Johanna Eisenschmidt hat ein Kind - Tochter Iris.

Iris Selbmann absolvierte nach der 8. Klasse das Institut für Lehrerbildung in Weißenfels. Die 74-Jährige, sie wurde in Neubrandenburg geboren, war Unterstufenlehrerin in Dehlitz und in Weißenfels. Später studierte sie Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft. Drei Jahre arbeitete sie an einer Universität in Ungarn. Iris Selbmann ist verwitwet, sie hat zwei Kinder, vier Enkel und drei Urenkel. (kdk)

Doch daran verschwenden beide Frauen derzeit keine weiteren Gedanken. Die freie Zeit verbringe die Mutter mit Lesen, die Tageszeitung gehöre zur täglichen Lektüre, die steht an erster Stelle. „Ich lese zwischen den Zeilen und denke mir meinen Teil“, erklärt die „Alt-Seniorin“. „Die können mich doch nicht für dumm verkaufen.“

Und dann nehme sie sich regelmäßig ein Buch vor, derzeit lese sie den Roman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Immerhin handelt das Buch von einem Hundertjährigen mit einer irrwitzigen Lebensgeschichte. Und sie sei ja schließlich auch so alt wie der Romanheld.

Mit dem Auto raus in die Natur

Bildung sei ihr immer wichtig gewesen im Leben. Nicht nur die, auch Handarbeit gehörte dazu wie Sticken, Nähen, Klöppeln und so weiter. Doch davon müsse sie leider Abstand nehmen, die Finger wollen nicht mehr so recht. „Dafür setze ich meine Mutter manchmal ins Auto und zeige ihr die schöne Natur“, fügt Iris Selbmann hinzu. So und ganz ähnlich vergehe Tag für Tag, manches werde zusammen unternommen, aber jede habe auch seinen Freiraum. „Man merkt dem Körper eben an, dass er 100 Jahre alt ist, das lässt sich nicht leugnen. Aber der Geist ist dafür noch unheimlich gut drauf.“ Stimmt. Mühelos kann die Mutter dem Gespräch folgen, ohne die geringsten Abstriche.

„Na ja, mein linkes Auge macht mir ein bisschen zu schaffen“, sagt sie. Aber das werde schon wieder. Mit einer Hand wischt sie den Gedanken plötzlich weg und ist im Nu bei ihren Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln. „Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu allen.“ Es sei ein schönes Gefühl, ihre Lieben um sich zu haben. Wenn sie beispielsweise in Pasewalk bei ihrem Enkel sei, dann fahre der sie immer zum Tollensesee nahe Neubrandenburg, ihrer alten Heimat. „Das ist einfach herrlich.“ Iris Selbmann will ihre Mutter weiterhin pflegen: „Ich weiß allerdings nicht, was morgen ist. Denn da kann alles anders sein.“