Jubiläum auf dem Brocken Jubiläum auf dem Brocken: Der Berg der Spione ist frei!

Ilsenburg - „Sehnsuchtsberg“ nennt der Fotograf Hansjörg Hörseljau den Brocken. „Ich kannte ihn nur vom Sehen aus der Ferne. Täglich bin ich in meiner Jugendzeit an ihm vorbeigefahren. Mein Schulweg von St. Andreasberg nach Clausthal-Zellerfeld führte über den Oberharz, und er lag oft zum Greifen nah. Auch wenn ich von Hannover, Braunschweig oder Göttingen in den Harz fuhr, thronte der Brocken vor mir. So ging es allen Menschen, egal ob im Osten oder Westen, Norden oder Süden – der Bundesrepublik Deutschland oder der Deutschen Demokratischen Republik. Er lag immer wieder da und war seit Urzeiten der Sehnsuchtsberg aller Deutschen. Umso mehr, wenn er nicht erreichbar war.“
Wichtigster Stützpunkt an der innerdeutschen Grenze
Die Brockenbahn transportierte 1957 noch mehr als 154 000 Menschen auf den Brocken. Ausschließlich Einwohner der DDR, für Westdeutsche war der Brocken mit dem Ausbau der Sektorengrenze als Staatsgrenze spätestens seit 1948 nicht mehr erreichbar. Die Grenze verlief unmittelbar unterhalb der Brockenkuppe zwischen Brocken und Torfhaus. Nach der Schließung wurde der Brocken für die Geheimdienste um- und ausgebaut. Die Staatssicherheit hatte dort ihren wichtigsten Stützpunkt an der innerdeutschen Grenze.
Seit 1947 waren russische Streitkräfte auf dem Brocken stationiert. Nach dem Mauerbau wurde die Spionageeinheit auf 100 Mann verstärkt und der Stützpunkt zum wichtigsten Spionageberg des Warschauer Paktes in Westeuropa ausgebaut. Zum Schutz der Spionage-Anlagen wurde ab 1978 die Brockenmauer errichtet. Sie hatte eine Höhe von 3,50 Metern und umfasste die komplette Brockenkuppe mit einer Länge von 1,54 Kilometern.
Brocken blieb dicht
Bis zum 3. Dezember 1989. Lothar Eyermann, 70, aus Ilsenburg erinnert sich an die Tage davor. „In Berlin war die Mauer offen, hier im Harz öffnete sich ein Grenzübergang nach dem anderen. Nur der Brocken blieb dicht.“ Zu viert habe man eine Resolution unterzeichnet und der Abteilung Inneres im Rat des Kreises Wernigerode vorgelegt. „Unter der Losung 'Macht den Brocken frei' meldeten wir eine Wanderung zum Brocken an. Man beschied uns, das ginge nicht.“ Wenig später kündigte die Zeitung die Brockenwanderung am 3. Dezember an. Lothar Eyermann erinnert sich. „Wir haben uns um 9 Uhr auf dem Ilsenburger Marktplatz getroffen. Alle waren aufgerufen, vernünftig zu agieren. Schließlich war der Brocken noch militärisches Sperrgebiet.“ Der Zug der Wanderer von Ilsenburg aus über Ilsetal, Ilsefälle und den Gelben Brink war überschaubar. „Doch am Eisernen Handweiser, wo sich vier Wege aus Schierke und Wernigerode trafen, schwoll der Zug an“, erinnert sich Eyermann. 3,5 Kilometer weiter nach dem Passieren des ersten Grenztruppenpostens erreichten die Wanderer die Brockenmauer und das Metalltor, das den Zugang zum Plateau verschloss.
„Immer stärker wurde daran gerackelt, die Rufe ,Macht den Brocken frei!‘ hallten immer lauter. Wir spürten, die Situation schaukelt sich auf. Tausend Leute standen auf der Brockenstraße. Anwesende Grenztruppen-Offiziere erklärten, das Tor werde nicht geöffnet. Man befinde sich an einem militärischen Stützpunkt. Noch dazu waren dort ja auch noch die Sowjetsoldaten“, erinnert sich Eyermann. Die Masse wurde immer unruhiger, die beiden Majore jenseits der Brockentore telefonierten mit der Führung der DDR-Grenztruppen. „Später teilten sie uns mit, dass immer zehn Leute durchs Tor gelassen werden und sich auf dem Brocken umschauen dürfen.“
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Als das Metalltor vorsichtig geöffnet wurde, mussten die Soldaten aufpassen, nicht überrannt zu werden. Es gab kein Halten mehr, 3 000 Menschen bevölkerten das Sperrgebiet auf dem Brockengipfel, tanzten, jemand griff zur Gitarre. „Aber die Auflösung hatte auch schon innerhalb der Absperrungen begonnen: Von der Wetterstation prangten Laken: Freie Bürger - Freier Brocken“, berichtet Lothar Eyermann. Und doch mischte sich etwas Angst in die Freude. Keiner wusste angesichts der Präsenz der Russen, ob die Lage nicht eskaliert.
Wetter hat zusätzlich beflügelt
Für den Ilsenburger verbindet sich dieser Tag auch mit der Wieder-Gründung des Harzklubs. „Karl Berke, der heutige Ilsenburger Harzklub-Chef, hatte ein A-4-Heft mit und sammelte dafür gleich oben auf dem Brocken eine Masse Unterstützerunterschriften. Alle waren so euphorisch. Was mir in Erinnerung blieb: Das Wetter war so schön, wir konnten bis zum Thüringer Wald schauen. Das passiert vielleicht fünfmal im Jahr. Das hat uns noch mal beflügelt.“ Als Lothar Eyermann an diesem 3. Dezember wieder bergabwärts wanderte, war er sich sicher: Der Brocken wird nie wieder verbarrikadiert werden. Er hatte Recht.
Protestrufe wurden immer lauter
Der Fotograf Hansjörg Hörseljau, der in Clausthal-Zellerfeld lebt, näherte sich an diesem historischen Tag dem Brocken auf einem längeren Weg. „Ich machte mich in aller Frühe auf den Weg nach Stapelburg zu dem provisorisch eingerichteten Grenzübergang. Mit dem damals noch notwendigen Mehrfachberechtigungsschein konnte ich in die DDR einreisen. Auch der Zwangsumtausch war noch nicht abgeschafft.“ Sein anstrengender Fußmarsch führte auch von Ilsenburg steil bergauf, und in den höheren Lagen lag knöchelhoher Schnee. „An der Einmündung zur Brockenstraße traute ich kaum meinen Augen: Dort standen Grenzsoldaten und verkauften Würstchen.“ Hörseljau fand das „total surreal“. Er hörte die Protestrufe von oben immer lauter werden. „So laut, dass der glücklicherweise unbewaffnete diensthabende Major Manfred Schulz das Tor um 12.47 Uhr öffnen lassen musste.“
Fotoausstellung in Wernigerode
Hansjörg Hörseljau war mit seiner Kamera dabei. Seit Anfang der 80er Jahre arbeitete er als Fotojournalist im Harz. Neben Auftragsarbeiten widmet sich der Fotograf eigenen fotografischen Langzeitprojekten. Die ehemalige Grenze, das Zusammenwachsen der ursprünglich getrennten Landesteile und der Brocken spielen in der fotografischen Arbeit von Hörseljau eine besondere Rolle. „25 Jahre freier Brocken“ - unter diesem Titel steht seit dem Wochenende auch seine Fotoausstellung im Museum „Schiefes Haus“ in Wernigerode. Dabei wird die ganze Bandbreite des Wandels gezeigt: Grenze, Mauerfall und Brockenöffnung, die Liegenschaften der östlichen und westlichen Geheimdienste, der Wandel der Natur vom Sperrgebiet zum Nationalpark und der Brocken heute als einer der wichtigsten Tourismusorte der Region Harz.
Für Hansjörg Hörseljau ist ein Besuch auf dem Berg nach wie vor faszinierend, zumal wenn man bei guter Fernsicht die Landschaft wie eine Landkarte vor sich liegen sieht. Und Lothar Eyermann? Der geht heute natürlich auf den Brocken. „Nicht im großen Tross, sondern mit ein paar guten Schulfreunden.“
