Wissenschaft Kritischer Visionär: Wirtschaftsinformatiker Key Pousttchi eröffnet Institut in Naumburg
Einrichtung widmet sich der digitalen Transformation. Welche Pläne er damit verfolgt und weshalb er in den Burgenlandkreis gekommen ist.

Naumburg - In den Räumen stapeln sich noch einige Umzugskartons. Auf einem Tisch liegen Präsente von Gästen der Eröffnungsfeier. Mehr als fünf Jahre stand Professor Dr. Key Pousttchi dem Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Digitalisierung an der Universität Potsdam vor, der von dem Softwarekonzern SAP gestiftet worden ist. Nun ist er in Naumburg angekommen - mit seinem privaten „wi-mobile Institut für digitale Transformation“, das in der Salzstraße ansässig ist. Die Entscheidung, in der Domstadt eine Art Neuanfang zu machen, hat viel mit der Frau des renommierten Wirtschaftsinformatikers zu tun. Kerstin Pousttchi stammt aus Zscheiplitz. Beide haben sich vor rund 30 Jahren kennengelernt und sich 2015 das Ja-Wort gegeben - in Naumburg, einen Tag vor Heiligabend. „Dann hieß es für uns, Ostsee oder zur Familie“, erzählt Pousttchi, der in Deutschland und über die Grenzen hinaus in Sachen Digitalisierung und digitale Transformation als führender Experte gilt, gern in den Medien zitiert, zu Fernsehinterviews eingeladen wird.
Jüngster Leutnant des Heeres
Früh setzte seine Begeisterung für Technik ein. In Rheine 1970 geboren und in Oldenburg aufgewachsen, erlernte er mit 14 Jahren während eines Kurses bei der Oldenburgischen Landesbank eine erste Programmiersprache. Ein Beweis für seinen Vater, dass er es ernst meinte, als er seinen dringenden Wunsch äußerte: „Papi, ich brauche einen Computer.“ Sein erster PC: ein Commodore 128. Als Dozent für EDV an der Volkshochschule und IT-Mitarbeiter für Firmen verdiente er als Jugendlicher gutes Geld.
Mit 19 ging er zur Bundeswehr, wurde zum Offizier ausgebildet; zum Zeitpunkt seiner Ernennung war er jüngster Leutnant des Heeres. Von 1992 bis 1996 studierte er Wirtschafts- und Organisationswissenschaften mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik an der Universität der Bundeswehr in München. Als Pressesprecher der Deutsch-Französischen Brigade beteiligte er sich am SFOR-Einsatz in Sarajevo und bildete später das erste Kontingent für den Kosovo-Einsatz KFOR aus. Ein Panzer im Kleinformat auf einem Regal in seinem neuen Büro scheint an jene Zeit zu erinnern.
2000 kehrte er in den wissenschaftlichen Betrieb zurück. Ein Jahr später baute er die Forschungsgruppe „wi-mobile“ an der Universität Augsburg auf, legte folgend seine Promotion und Habilitation ab. In den kommenden Jahren beschäftigte sich der gebürtige Westfale mit den Themen Mobile-Commerce und Mobile-Business. Die Liste seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist lang, umfasst Bücher und Beiträge in Fachzeitschriften; zuletzt ist sein Band „Die verblendete Republik. Warum uns keiner die Wahrheit über die Digitalisierung sagt“ erschienen. Wenn es um die Politik in der Bundesrepublik in den vergangenen 20 Jahren in Sachen Digitalisierung geht, nimmt der 51-Jährige kein Blatt vor dem Mund. Funklöcher, eine schlechte Internetabdeckung - all das beschäftigt ihn. „Es gibt in diesem Bereich keine wirkliche Politik, sondern nur Darstellung“, meint Key Pousttchi und sieht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ins Hintertreffen geraten.
„Es gibt in diesem Bereich keine wirkliche Politik, sondern nur Darstellung.
Professor Dr. Key Pousttchi
Die nur wenige Gehminuten entfernt am Naumburger Markt ansässige Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft, eine Behörde des Bundes (siehe Seite 9), hält er für überflüssig. „Ein einheitliches Netz - mehr braucht es nicht“, sagt der Wirtschaftsinformatiker, doch sein Wunschzettel geht weiter. „Es fehlt vollständig an digitaler Bildung.“ Beispielsweise sei der Informatik-Unterricht nicht mehr das, was er einmal war. Er sollte Pflichtfach werden, auch wenn er wegen Vermittlung theoretischer Grundlagen nicht unbedingt nur Spaß mache.
Digitalisierung weit gesehen
Von einem speziellen Angebot der Naumburger Stadtbibliothek - Leiterin Sabine Matzner zählte neben der Leiterin der Kreis-Volkshochschule, Renate Schlüter, zu den Gästen der Institutseröffnung - zeigt er sich angetan: Mit den Bee-Bots, kleinen Robotern in Bienenform, wird Kindern die Basis des Programmierens vermittelt. „Das braucht es“, sagt Pousttchi mit der Broschüre zum Projekt in der Hand.
Sein Blick auf die Digitalisierung ist weit gespannt, umfasst mehrere Felder und reicht über die Technik hinaus in die Bereiche Wirtschaft sowie Mensch und Gesellschaft, die zueinander in Beziehung stehen. „Digitalisierung ist kein Lifestyle-Thema, sondern eine Ingenieuraufgabe. Die Arbeit fängt erst an, wenn man die Technik verstanden hat“, erklärt der Professor. Sein Institut soll eine Bildungsschmiede sein. „Ich habe einen Uni-Lehrstuhl vor Augen“, so der Neu-Naumburger. Rund zehn Mitarbeiter soll es künftig umfassen, die er noch sucht. Neben der wissenschaftlichen Arbeit sollen Weiterbildungen für mittelständische Unternehmen und Vertreter aus Politik und Medienwelt angeboten werden, die sich vor allem Prozessen und Organisationsformen, Geschäftsmodellen und Wertschöpfungsnetzen widmen sollen. In den Räumen in der Salzstraße befindet sich ein Seminarraum, der Platz bietet für mehr als 40 Personen.
Auch kostenfreie Angebote für Schulen soll es geben. Dass sowohl das Naumburger Domgymnasium als auch die Landesschule Pforta sein Schreiben bisher ignoriert haben, enttäuscht ihn. In den nächsten drei Jahren trägt sich das Institut durch seine eigenen privaten Mittel, danach soll es mittels Vortragshonoraren und Lehrgängen für Führungskräfte sowie mittelständische Unternehmen finanziert werden.
Aktuell beschäftigt sich der Wissenschaftler mit einem brisanten Thema: den Strategien der US-amerikanischen Big-Tech-Konzerne Apple, Amazon, Facebook, Google und Co. sowie deren Auswirkungen auf die Wirtschaft. Obwohl er sich auf seinen Twitter-Kanal als stolzer „Non-Digital-Native“ bezeichnet, besitzt er kein Smartphone - „der Daten wegen“, erklärt er. Er nutzt ein „altes“ Blackberry-Gerät ohne mobile Datennutzung. Im Notfall greift er zu einem iPad. Im Gespräch über Informatik und Digitalisierung holte er aus einem Regal einen dicken Wälzer, dass das Standardwerk sei. Wenn er Unternehmen dieses Thema vermittelt und ihnen aufzeigt, wie sie sich für die digitale Zukunft rüsten können, holt er eine aus vielen Zetteln zusammengesetzte Collage mit handschriftlichen Notizen hervor; den sogenannten Werkzeugkasten, auch Toolbox genannt. „Im besten Fall wirkt die analoge Welt mit der digitalen Welt zusammen“, so Pousttchi.
Kirschfest-Umzug beobachtet
Naumburg nennt er charmant, von seiner Übergangswohnung am Lindenring - gemeinsam mit seiner Frau plant er, ein Haus in der Seminarstraße zu beziehen - hat er jüngst den Kirschfest-Umzug verfolgt. Seine Hoffnung für das Land ist mit einem riesigen Schwarz-Weiß-Foto verbunden, das eine Wand in seinem Büro ziert. Es zeigt das Luftschiff „LZ 127 Graf Zeppelin“ Ende der 20er-Jahre über Los Angeles. Damals habe man über deutsche Ingenieurskunst gestaunt: „Dahin möchte ich wieder kommen.“