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Auswirkungen der Pandemie auf Kinder Kinder- und Jugendpsychologe im Interview: „Corona ist weg, aber nicht der Krisenmodus“

Nach den Corona-Jahren ist auch für Kinder und Jugendliche der Alltag zurückgekehrt - Zeit zu schauen, wie sie die Einschränkungen überstanden haben. Ein Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychologen Mathias Friedemann.

Aktualisiert: 19.05.2023, 09:46
Die Pandemie verstärkte psychische Probleme bei Kindern.
Die Pandemie verstärkte psychische Probleme bei Kindern. (Foto: imago/Westend61)

Naumburg - Das strenge Einhalten der Corona-Maßnahmen stand lange Zeit vor allem für Kinder und Jugendliche im Vordergrund, ohne öffentlich zu diskutieren, was das für deren seelisches Wohl, ihre soziale Entwicklung bedeuten würde und was gegebenenfalls anders reguliert werden müsste.

Dass über Monate geschlossene Kitas und Schulen, fehlende soziale Kontakte, mangelnde Bewegung, ausgefallene Klassenfahrten oder Abi-Feiern nicht spurlos an ihnen vorübergegangen ist, räumt nun auch die Politik ein. Bereits im Mai 2021 sprachen der in Naumburg niedergelassene Kinder- und Jugendpsychologe, Mathias Friedemann, und der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Saalekreis mit der Außenstelle Tagesklinik in Naumburg, Günter Vulturius, in einem Tageblatt/MZ-Interview darüber, wie sich die Corona-Maßnahmen auf die psychische Gesundheit der Jüngsten auswirken würden. Nun, zwei Jahre später, die Maßnahmen sind Geschichte, wirft Friedemann, im Gespräch mit Redakteurin Jana Kainz, einen Blick auf die aktuelle Situation der Kinder und Jugendlichen.

Es heißt, die Wartelisten für einen Termin beim Kinder- und Jugendpsychologen sind seit der Corona-Zeit lang. Können Sie das bestätigen?

Mathias Friedemann: Es sind in der Tat mehr Patienten geworden. Inzwischen hat es ein Level erreicht, dass ich es manchmal nicht mehr schaffe, auf die auf dem Anrufbeantworter eingegangenen Anrufe zu reagieren. Auch von Kollegen weiß ich, dass auch sie neue Patienten abweisen müssen, weil sie in absehbarer Zeit keine Termine zur Verfügung stellen können.

Lässt sich der gestiegene Bedarf in Zahlen ausdrücken?

Das ist schwierig, denn wenn die Decke des Machbaren erreicht ist, ist alles darüber nicht mehr wahrnehmbar. Es spielt auch eine Rolle, dass nicht nur die Erkrankungen mehr geworden sind. Es ist auch eine Mischung aus der Besorgnis von Eltern, Lehrern und dem tatsächlichen Leiden der Kinder. Häufig ist es so, dass ich mich in den Sprechstunden weniger als Psychotherapeut angesprochen fühle und eine psychische Erkrankung sehe, sondern Spannungen, die im Alltag auftreten.

Das heißt konkret was?

Im letzten Jahr bin ich mehrfach von Schulen, meist Sekundarschulen, eingeladen worden, weil es bei den Lehrern Gesprächsbedarf gab. Bevor die Schulen wieder öffneten, gab es den Impuls, sich hinzusetzen und zu überlegen, was da auf sie zukommt. Man machte sich Sorgen, wie man in Krisensituationen reagiert - wie bei einem Suizidversuch. Mit der Wiederöffnung trafen sich verschiedene Ratlosigkeiten: denen von Eltern, von Lehrern und denen von Kindern.

Ratlosigkeit unter Lehrern - das lässt aufhorchen. Pädagogen, meint man, wären prädestiniert, erkennen zu können, was derartige Maßnahmen bei den Kindern anrichten könnten. Was macht sie ratlos?

Nun ja, es gab anfangs, als die Schulen wieder geöffnet wurden, ein Aufatmen unter Schülern und Lehrern, dass endlich wieder Normalität einzieht. Die Erfahrung, dass die Normalität eine andere ist als vorher, ist eine, die erst nach und nach deutlich geworden ist. Das hatte eine Irritation bei allen Beteiligten hervorgerufen und Kreisläufe in Gang gesetzt, die für ein gutes Gelingen nicht besonders nützlich waren. Zudem hatten sich die Art der Erkrankungen ein Stück verschoben. Man kann unter psychischen Störungen unterscheiden, wo Kinder impulsiv sind, die Symptome nach außen abgeführt werden, Dampf ablassen und das Problem eher bei den anderen entsteht - wie unangepasstes Verhalten in der Schule oder sich nicht an Regeln halten. Dem gegenüber gibt es Symptome, die sich eher nach innen richten, so etwas wie Depressionen und Ängste, von denen die Umwelt erst einmal nicht viel mitbekommt - auch Lehrer nicht, weil das Kind unkompliziert ist und still vor sich hin leidet. Und verschoben haben sich die aktuellen Erkrankungen eben in diese nach innen gerichteten - und zwar so in der Summe, dass es auch den Lehrern auffällt.

Sie sprachen von einem nicht förderlichen Kreislauf beim Start in den wiedergewonnenen normalen Alltag. Was muss man sich darunter vorstellen?

Die Schüler miteinander waren stärker oder anders in Konflikte geraten. Wenn ich den Kindern zugehört habe, war es so, als ob ich den Winter über nicht viel draußen und in der Sonne war und ich mich nun über den ersten warmen Tag freue und mir viel schneller einen Sonnenbrand hole, als ich in Erinnerung hatte. Die Empfindsamkeit, Kränkbarkeit war größer geworden. Jedes Wort wurde auf die Goldwaage gelegt bis hin zu skurril anmutenden Entwicklungen, dass sich die Kinder jetzt per WhatsApp anschreiben, ob man sich ein bisschen schreiben wolle. Das könnte man Vorsicht oder Verklemmtheit nennen. Eine Unsicherheit nehme ich dahinter wahr, die Angst vor Ablehnung.

Traf das in gleichem Ausmaß auf alle Altersgruppen zu?

Man kann grob sagen, die Jugendlichen über 15 hatten das robuster genommen. Sie hatten einfach Muster, auf die sie zurückgreifen konnten. In der ganz verunsichernden Zeit war es extrem bei den Zwölf- bis 14-Jährigen. Den jüngeren Kindern fallen ihre Defizite auf breiter Fläche nicht auf, weil sie keinen Vergleich haben. Beispielsweise erzählen Sportlehrer von Sekundarschulen, dass sie in Klassenstufe fünf und sechs keinen Sport mehr nach Rahmenlehrplan machen können, weil die Voraussetzungen motorischer Art fehlen. Leistungslücken in anderen Fächern fallen den Kindern selbst eher auf. Im zwischenmenschlichen und emotionalen Bereich gibt es häufiger Konflikte. Das soziale Training fehlt. Es gibt den vergröberten Ton, das Pöbeln und das trifft sich mit dem vergröberten Ton in der Erwachsenengesellschaft. Dies legitimiert es, sich anzufeinden.

Haben sich die zwei Schul-Lockdowns unterschiedlich ausgewirkt?

Nach dem ersten habe ich die Kinder noch ganz gesund-kreativ erlebt. Wenn das Ordnungsamt tagsüber kontrolliert hat, haben sie sich eben nachts getroffen - was aus psychologischer Sicht ein altersentsprechend völlig gesundes Verhalten ist. Während sie im zweiten Lockdown wirklich Angst hatten und zu Hause geblieben sind, denn da gab es auch Nachbarn, die gepetzt haben, wenn mal ein ortsfremdes Auto vorgefahren ist. Und es herrschten Ängste wie: „Ich bringe Oma um, wenn ich sie besuche“ und all dies. Da habe ich die Kinder überaus verantwortungsbewusst und überangepasst erlebt. Damals sind sie auf den virtuellen Raum ausgewichen.

Mit der Distanz sanken auch gewisse Hemmungen, weil sie die nonverbalen Signale nicht mehr hatten. Das haben sie anschließend ins analoge Leben mitgenommen, mit der verblüffenden Erfahrung, dass Freundschaften nicht gut halten. Da beobachte ich viel Hilflosigkeit, sowas Ungelenkes wie im motorischen Bereich. Das hat alles auch die Lehrer an Grenzen gebracht.

Bauen sich diese Defizite inzwischen ab?

Es ist eher noch im Anschwellen begriffen.

Sind das immer noch Auswirkungen allein der Corona-Zeit?

Corona ist weg, aber nicht der Krisenmodus.

Dieser ist geblieben, weil?

Ich sehe dabei vor allem drei Sachen: Die gewachsene Empfindlichkeit der Kinder und Jugendlichen und die entsprechenden Spannungen, die für sie nicht aus dem Bauch heraus zu regeln sind, treffen auf eine personell belastete Schule. Lehrer wiederum konnten sich zwei Jahre aus diesem zwischenmenschlichen Themenbereich herausnehmen. Jetzt kommen die Lehrer an ihre Grenzen und grenzen sich ab und rufen nach dem Schulsozialarbeiter, der es nicht umfänglich für die Schule regeln kann. Und das Dritte sind die Eltern, die nach dem digitalen Schulbetrieb jetzt meinen, Lehrer jederzeit kontaktieren zu können. Da stellt sich die Frage, wie schraubt man das wieder zurück. Andererseits hat die Politik in der Corona-Zeit viel Angst verbreitet und teils uneinlösbare Versprechen gemacht wie: Wenn sich genügend Menschen haben impfen lassen, wird alles wie vorher. Es ist aber nicht wieder so geworden. Im Gegenteil. Danach kam die nächste Krise - der Krieg - und danach die nächste. Das macht so eine unterschwellige Sorge, ob ein nächster Virus kommt und alles wieder von vorn losgeht.

Umso wichtiger scheint es doch, das Vergangene aufzuarbeiten, um für die Zukunft nicht die gleichen Fehler zu begehen oder den Werkzeugkasten endlich zu füllen, von dem sie vor zwei Jahren sprachen. Gibt es da entsprechende Initiativen?

Was grundsätzlich daraus folgt, ist, dass sich schlecht vorhersagen lässt, was angezeigt ist. Die erste Reaktion, sich zu schützen, wenn man nicht weiß, was da auf einen zukommt, ist ja nachvollziehbar. Womit ich nicht mehr konform bin, ist, dass überreguliert wird, Spielplätze gesperrt werden und das kontrolliert wird und Bußgelder verhängt werden. Im Moment würde ich am ehesten denken, dass es an der Zeit ist für eine sachliche, von verschiedenen Seiten geprägte Reflexion über die Erfahrungen, Wirkungen und Nebenwirkungen der Corona-Maßnahmen.

Gibt es vor Ort unter Ihren Kollegen und Psychiatern, vielleicht auch unter Lehrern und anderen fürs Kindeswohl Tätigen, Bestrebungen, die Zeit aufzuarbeiten, um sich für die Zukunft zu wappnen?

Die Psychotherapeuten bilden ein Stück weit die Gesellschaft ab. Der Großteil ist wohl aber nur froh, dass das Thema durch ist. Außerdem verändern sich die äußeren Themen, rollen neue Spannungsthemen an wie unter den Studierenden die KI-Welle. Das fordert Anpassung. Aus den Schulen höre ich, dass sie am Digitalisierungskurs festhalten, diesen vorantreiben wollen. Es gibt aber übergeordnet Verbände und Arbeitsgemeinschaften von betroffenen Personengruppen, die sich gebildet haben, die die Maßnahmen kritisch beleuchten, um eine bessere Balance zwischen effektivem Reagieren und einer alltagsnahen Gelassenheit zu erreichen.