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Erinnerung an Totenzug Weltkrieg 1945: Erinnerung an Totenzug: "Oma bat mich das schreckliche Erlebnis schnell zu vergessen."

Von Robert Briest 23.11.2018, 09:00
Ein MZ-Artikel weckte bei Günther Knahl schreckliche Erinnerungen.
Ein MZ-Artikel weckte bei Günther Knahl schreckliche Erinnerungen. Peter Wölk

Merseburg - Die Mutter und Großmutter versuchten Günther Knahl und seinen Zwillingsbruder vor den negativen Einflüssen des Zweiten Weltkrieges zu schützen - so gut das eben ging angesichts regelmäßiger Fliegerangriffe, des mit nur 18 Jahren im U-Boot-Krieg gestorbenen Bruders und des verschollenen Vaters. Doch an jenem Tag im April 1945 konnte auch die familiäre Fürsorge nicht verhindern, dass sich die schrecklichen Bilder tief in das Gedächtnis der damals Siebenjährigen einbrannten. Die Brüder wurden im April 1945 Zeugen, wie leblose Menschen aus einem Zug mit Gefangenen entladen wurden.

Der Zug dürfte, so vermutet Knahl, jener gewesen sein, der seinen Ursprung im Arbeitserziehungslager Zöschen und vielleicht auch im Gefängnis Roter Ochse in Halle hatte. Ein MZ-Artikel über die Odyssee, die für viele Zwangsreisende in den Tod führte, rief daher bei Knahl die Erinnerungen zurück. Der heute 80-jährige Merseburger telefonierte mit seinem Zwillingsbruder: „Der konnte sich an weitere Details erinnern.“

Merseburger zeichnet das gemeinsame Erinnerungsbild an 1945

Knahl zeichnet das gemeinsame Erinnerungsbild: Die Familie, zu der auch ein kleinerer Bruder sowie Tante und Cousine zählten, wohnte damals im böhmischen Graupen (heute: Krupka), einem Nachbarort von Bohosudov, der als ein Zwischenhalt des Zöschener Zuges bekannt ist. Dort, so hatten es Recherchen des Heimatvereins Zöschens ergeben, sind 313 Tote aus dem Zug beerdigt worden.

An jenem Apriltag, so schildert Knahl, sei er mittags mit seinem Bruder auf dem Rückweg von der Schule gewesen, als sie ihrer früheren Kindergärtnerin begegneten. „Das war eine stramme Nationalsozialistin, die selbst im Kindergarten ihr Parteiabzeichen trug.“ Sie berichtete, dass die Jungs etwas „verpasst“ hätten. Neben den Bahngleisen hätten gerade schwer bewachte Häftlinge Gras „gefressen“.

1945: Schrecklicher Anblick dutzender Toter

Die Brüder mussten dies kurze Zeit später mit eigenen Augen sehen, führte ihr Heimweg doch direkt an den Bahngleisen vorbei, auf dem ein Güterzug stand: „Zu unserem Entsetzen konnten wir sehen, wie leblose Menschen an Beinen und Armen gezogen und getragen und im Abstand von 50 bis 100 Metern unterhalb der Bahngleise abgelegt wurden“, erinnert sich der Rentner. Sie seien wie gelähmt gewesen von diesem schrecklichen Anblick, der ihnen „in der Seele wehgetan“ hätte.

Dann sei ihre Großmutter mit Tränen in den Augen gekommen. „Sie drückte uns an sich und bat uns inständig, dieses schreckliche Erlebnis schnell wieder zu vergessen.“

Totenzug: Wenige Wochen später war der Krieg in Europa zu Ende

Gelungen ist das Knahl nicht. Er berichtet, dass in der Familie zumindest vor den Kindern nicht über die Ereignisse dieses Tages gesprochen wurde - und auch außerhalb nicht. „Sie wurden im Ort totgeschwiegen.“ Der 80-Jährige hält das für verständlich. „Die Menschen hatten Angst davor, in den Verdacht zu geraten, dass sie etwas Staatsfeindliches von sich geben. Die Leute haben das Unrecht gesehen, aber wegen der drohenden Strafen nichts gesagt.“ Wenige Wochen später war der Krieg in Europa zu Ende. Für Knahl folgten weitere prägende Negativerlebnisse, deren Erzählung er jedoch voranstellt, dass er die auf keinen Fall mit dem Leid der Gefangen in dem Zug vergleichen oder NS-Unrecht relativieren will.

Tschechische Partisanen hätten sie im Mai 1945 gezwungen, binnen einer halben Stunden ihr Haus zu räumen. Teils mit dem Zug, über weite Strecken auch zu Fuß zog die sechsköpfige Gruppe - die Oma durfte in Krupka bleiben, weil sie einen tschechischen Nachnamen hatte - gen Westen, übernachtete in Scheunen oder bei den wenigen Hilfsbereiten.

Knahl folgte der Familientradition und ging in den Bergbau

Nach drei Jahren in Sangerhausen, in denen auch Onkel und Vater aus britischer Gefangenschaft zurückkehrten, und in denen man teilweise zu acht in einem Zimmer wohnte, sei man schließlich im sächsischen Freital sesshaft geworden. Knahl folgte der Familientradition und ging in den Bergbau. Eine Entscheidung, die ihn schließlich nach dem Studium nach Merseburg brachte.

Dort treibt ihn mit 73 Jahren Abstand die Sorge um, dass „zunehmend radikale Politik das Leben der Menschen wieder beherrschen könnte“. Der Zeitzeuge sagt, es gelte damals wie heute: „Wenn radikale, extremistische Auffassungen politisch gewollt und geschürt werden, herrscht nur noch der Hass. Humanität, Verstand und Toleranz spielen im menschlichen Zusammenleben kaum noch eine Rolle, mit unvermeidlichen, schrecklichen Folgen.“ Daraus gelte es endlich Lehren zu ziehen. (mz)