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Kurz vor Kriegsende NS-Verbrechen: Wie in Zöschen Hunderte Gefangene in den Tod geschickt wurden

Von Robert Briest 11.11.2018, 14:00
Die Gefangenen des „Roten Ochsen“ mussten vor Kriegsende raus.
Die Gefangenen des „Roten Ochsen“ mussten vor Kriegsende raus. Holger John

Halle (Saale)/Zöschen - Der Obermelker Schlegel ist tot. Seine Frau erfährt diese bittere Kunde erst zehn Monate später. Ein Pfarrer Diete aus Wittenberg schreibt ihr, dass er die letzten Tage mit ihrem Mann gemeinsam verbracht, am Ende sogar eine kurze Andacht für ihn gehalten hat. Gestorben ist Friedrich Schlegel im April 1945 an einer Lungenentzündung, ermordet haben ihn aber letztlich die Nationalsozialisten, die ihn und Tausende andere kurz vor Kriegsende auf eine tödliche Odyssee schickten.

Die hatte einen Anfangspunkt in Zöschen. Als die Alliierten näher rückten, sollte das dortige Arbeitserziehungslager geräumt werden. Gut 600 Gefangene werden auf Züge verladen. Ihr Ziel: das Konzentrationslager Flossenbürg in der Oberpfalz. So stehe es zumindest bei vielen der Häftlinge in den Gefangenenbüchern, berichtet Edda Schaaf vom Heimat- und Geschichtsverein Zöschen, die seit längerem der Geschichte des Gefangenentransports nachforscht, den sie viele Jahre nur als Geschichte des örtlichen Kohlehändlers kannte.

Gefangenenbuch mit Eintrag „nach KL Flossenbürg entlassen“

Auch Friedrich Schlegel war 1945 Gefangener in dem Auedorf. Auch hinter seinem Namen findet sich im Gefangenenbuch der Eintrag „nach KL Flossenbürg entlassen“. Wie seine Mithäftlinge kam er dort allerdings nie an. Der Zug sei Richtung Dresden gefahren, berichtet Schaaf: „Ich denke, sie sind dann irgendwann in die Nähe der Front gekommen. Es war eine Odyssee. Sie standen teilweise lange in einem Bahnhof.“ Schließlich waren damals schon viele Strecken gesperrt.

Das bestimmte auch den Weg eines zweiten Zuges, der sich in etwa zur gleichen Zeit aus Halle auf den Weg machte – und mit ihm rund 400 bis 500 Häftlinge des Roten Ochsen in Halle. Michael Viebig, Leiter der dortigen Gedenkstätte, erklärt: „Es gab damals die Anweisung von ganz oben: Beim Anrücken der Alliierten sind die Gefängnisse zu leeren. Die Kleinkriminellen wurden teilweise freigelassen, aber die Langzeitgefangenen und die Politischen sollten keineswegs den Alliierten in die Hände fallen. Und so lief gut die Hälfte der verbliebenen Insassen nach Dieskau, wo offene Kohlewagen auf sie warteten. Nur der letzte Wagen war überdacht. Er war den zum Tode Verurteilten vorbehalten.“

Deportationszüge der Nazis: „Wer über die Bordwand geguckt hat, wurde erschossen“

Über die Zustände auf dem halleschen Zug, ist ein wenig mehr bekannt, denn einem der Wächter, einem Herrn Richter, wurde Jahre nach dem Krieg der Prozess gemacht. „Die Aussagen der Gefangenen waren da ähnlich: Wer über die Bordwand geguckt hat, wurde erschossen“, berichtet Viebig. Auf dem Bremserhäuschen hätte ein Maschinengewehr gestanden. Die Beamten, die den Zug begleiteten seien eigentlich auf verlorenem Posten gewesen. „Sie hatten nur für drei Tage Essen mit, waren aber vier Wochen unterwegs“, schildert der Historiker.

In den halleschen Gefangenenbüchern finden sich als Zielorte Bayreuth und Straubing. Laut Wächter Richter hieß das Ziel in den Akten jedoch ebenfalls Flossenbürg. Der Zug machte sich, so erzählt Viebig, jedenfalls von Dieskau auch zunächst Richtung Süden auf den Weg. Die Gefangenen berichteten aber später, dass der Bahnhof Weißenfels unter Beschuss gestanden hätte, als sich ihre Wagen näherten. Der Zug machte kehrt, in Halle wurden Waggons eines weiteren Gefangenentransports angekoppelt, der kam möglicherweise aus Richtung Nordhausen. Der hallesche Zug fuhr dann über Usti nad Labem in das heutige Tschechien, unterwegs wurden an Bahnhöfen immer neue Wagen angekoppelt.

Bohosudov bei Teplice: Leichen in die Kohlegrube

Schaaf und Viebig haben deshalb den Verdacht, dass aus ihren beiden Zügen irgendwann einer geworden ist. „Der Beweis fehlt, aber es ist höchstwahrscheinlich“, sagt der Historiker. Ein Indiz ist der Ort Bohosudov (früher: Marienschein) bei Teplice, der in beiden Nachforschungen auftauchte. Schaaf hat ihn besucht und ist dort auf die Ergebnisse eines lokalen Forschers gestoßen. Demnach entsorgten die Nazis Ende April 313 Tote in dem Städtchen. Viele warfen sie einfach in eine Kohlegrube – die Stadt hat sie später umgebettet. Unter den Toten muss nach den Schilderungen von Pfarrer Diete gegenüber der Witwe auch Friedrich Schlegel gewesen sein.

Der Zug, so es denn nur noch einer war, bewegte sich anschließend weiter Richtung Süden. In Psov liegen weitere 268 Tote aus dem Transport, erklärt Schaaf, die keine genauen Erkenntnisse darüber hat, wie viele Zöschener Gefangene die vierwöchige Fahrt mit wenig oder gar keiner Nahrung überlebten. Pfarrer Diete, der selbst nach eigenem Bekunden zwischenzeitlich „sterbereif“ gewesen war, bezifferte die Zahl der Überlebenden in seinem Brief auf 122. Aus Halle sei etwa die Hälfte der Gefangenen gestorben, schätzt Viebig.

Deportationszüge 1945: „Es gab viele Krankheiten wie die Ruhr“

„Es gab viele Krankheiten wie die Ruhr. Wer nicht auf dem Wagen scheißen wollte, wurde erschossen.“ Andere Gefangene seien auch an Lungenentzündungen gestorben, fügt Schaaf an. Schließlich seien sie in dem kalten Frühjahr ’45 gezwungen worden, in Weihern zu baden. Manche Häftlinge wurden von den Nazis auch einfach erschossen. Dieses Los traf die zum Tode Verurteilten aus Halle kurz vor Kriegsende bei Pilsen, wo sich die Spur der Züge endgültig verliert.

Der Wärter Richter entgeht hingegen dem gewaltsamen Tod. Das Gericht verhängt gegen ihn keine Todes-, sondern eine lebenslange Freiheitsstrafe, weil Gefangene für ihn aussagten, wie Viebig aus den Gerichtsakten zitiert. Er habe unter dem Vorwand, mit ihnen Essen suchen zu wollen, mehrere Häftlinge bewusst entkommen lassen. Richter kam 1956 auf freien Fuß. Schlegel war da bereits elf Jahre tot. (mz)

Unter Nummer 63 findet sich Friedrich Schlegel im Gefangenenbuch mit dem Vermerk „nach KL Flossenbürg entlassen“.
Unter Nummer 63 findet sich Friedrich Schlegel im Gefangenenbuch mit dem Vermerk „nach KL Flossenbürg entlassen“.
Heimat- und Geschichtsverein Zöschen