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"Ein beschissenes Gefühl" "Ein beschissenes Gefühl": Ein Volkspolizist erinnert sich an die Wendezeit

Von Undine Freyberg 10.11.2019, 07:00
Auto der Volkspolizei
Auto der Volkspolizei imago/ecomedia/robert fishman

Merseburg - „Ich bin froh, dass damals niemand geschossen hat“, sagt Andreas. Der Merseburger war 1989 bei der Schutzpolizei des Volkspolizeikreisamtes Merseburg. 1980 hatte er dort angefangen, vorher in Buna Schlosser gelernt und seinen Grundwehrdienst bei der Bereitschaftspolizei in Halle gemacht. Er erinnert sich noch gut an die Zeit vor 30 Jahren, als auch in Merseburg das passierte, was dann friedliche Revolution genannt wurde.

30 Mann in Bereitschaft

„Unsere normale Aufgabe war ja der Schutz des Bürgers“, erzählt der heute 58-Jährige, der damals vorwiegend Motorradstreife gefahren ist. „Und wenn es ruhestörenden Lärm, oder Schlägereien gab, mussten wir ran.“ Irgendwann habe er gemerkt, dass sich etwas verändere. „Es ist ja nicht viel berichtet worden, aber ab und zu hat man durch Presse, Funk und Fernsehen ein bisschen was mitbekommen. Das meiste hat man sich erzählt.“ Dann sei es in Merseburg losgegangen, Menschen trafen sich im Dom und in der Stadtkirche.

„Am Anfang waren das ja Konterrevolutionäre, die den Staat stürzen wollten. So hatte man es uns gesagt und uns die Menschen, die da zusammenkamen, in den schillerndsten Farben als Bösewichter geschildert“, erzählt der Mann, der damals wie alle seine Kollegen in der Partei war. Als die „Konterrevolution rollte“ und es zu den ersten Montagsdemos kam, habe immer ein Teil der Volkspolizisten im Revier in Bereitschaft gesessen.

„Ein ganzer Zug - also 30 Mann - in voller Montur.“

„Ein ganzer Zug - also 30 Mann - in voller Montur. In Kampfanzug, mit Schild, Helm, Waffe und dem ,großen schwarzen Agitator', wie damals die Schlagstöcke genannt wurden.“ Die hätten also im Prinzip darauf gewartet, dass irgendein Vorgesetzter kommt und sagt: Raus! „Ich habe da auch mit gesessen und jeder von uns hat gehofft, dass keiner zur Tür reinkommt und uns losschickt.“ Der Gedanke daran, dass man möglicherweise auf Bekannte oder Freunde hätte losgehen müssen - „Das war ein beschissenes Gefühl“. Andreas war damals schon verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. „Und meine Frau hatte an jedem Montag Angst um mich.“

Man habe dann mitgekriegt, dass es von Montag zu Montag mehr Menschen wurden, die sich trafen. „Nach ungefähr drei bis vier Wochen schlug dann auch die Stimmung bei unseren Vorgesetzten um. Wir saßen dann nicht mehr in Bereitschaft, sondern sind mit rausgegangen auf die Straße und haben diesen Aufzug abgesichert.“ Es sei also nicht mehr die Stimmung „das sind Konterrevolutionäre“ gewesen, sonder eher „wir passen mal auf, dass nichts passiert“.

„Und dann haben sie mir zugerufen: ,Zieh Dich um, zieh Dich um'“

Er könne sich noch genau an einen bestimmten Montag erinnern. „Das war kurz vor dem 9. November. Da habe ich an der Dammstraße Ecke Poststraße abgesperrt, weil die Leute ja vom Dom runter zur Stasi-Zentrale gelaufen sind.“ Da er selbst Merseburger sei, hätten ihn auch viele von den Demonstranten gekannt, die in dem Zug mitgelaufen sind. „Und dann haben sie mir zugerufen: ,Zieh Dich um, zieh Dich um'. Sie wollten, dass ich meine Polizeikluft gegen Zivilklamotten tausche und mit ihnen laufe.

Das war für mich der Punkt, an dem ich gedacht habe: Ja, was machst Du hier eigentlich?“ Da habe er gemerkt: Die wollen mir ja gar nichts Böses und ich ihnen ja eigentlich auch nicht. „Nur mit dem Unterschied: Ich hatte damals einen Eid geschworen - dem Staat zu dienen.“ Wenn also damals am Anfang der Demos jemand gesagt hätte, ihr müsst jetzt raus und ihr müsst die zusammenknüppeln, dann hätten sie das gemacht.

„Ohne Diskussion. Deshalb haben wir damals alle gehofft, dass die Tür nicht aufgeht.“

„Ohne Diskussion. Deshalb haben wir damals alle gehofft, dass die Tür nicht aufgeht.“ Wenn sie hätten eine Demo auflösen müssen, wäre es definitiv zu Eskalationen gekommen, meint der 58-Jährige heute. „Aber unsere Vorgesetzten hatten glücklicherweise auch Düsengang - so wie wir“, erinnert er sich. Gott sei Dank habe niemand den Befehl zum Schießen gegeben. „Denn wenn ich dazu aufgefordert worden wäre und ich hätte es nicht getan, hätte man mich wegen Befehlsverweigerung eingesperrt. Unter den Kollegen waren wir uns einig, dass wir großes Glück hatten.“

Am Montag keinen Dienst zu machen, um dem Ganzen aus dem Weg zu gehen, sei nicht drin gewesen. „Da war Dienstfrei-Sperre. Nach dem 9. November haben wir noch wochenlang die Stasi-Zentrale bewacht und aufgepasst, dass keiner unerlaubt was raus schleppt und vielleicht Akten vernichtet.“

Damals habe man natürlich auch im Privaten mit Freunden und Kumpels, die bei den Demos mitgelaufen sind, über die ganze Sache geredet. „Als dann Leipzig kam und Dresden kam, hat man auch als Polizist gemerkt, dass da was passiert, was sich nicht wieder umkehren wird. Ich habe ja auch in diesem Land gelebt und habe verstanden, was die Leute wollten. Dem Neuen Forum ging es um Reisefreiheit und um freie Wahlen. Mehr wollten die Leute gar nicht.“ Erst nach dem 9. November sei es dann um die D-Mark gegangen.

Schlangen bei der Visa-Stelle

Es habe schon vor diesem Datum die Regelung gegeben, dass man mit einem Visum ausreisen durfte. „Wir hatten damals lange Schlangen beim VPKA bei der Visa-Stelle.“ Dann kam die Schabowski-Pressekonferenz. Alles war anders und die Grenzen waren plötzlich offen. „Nur den Grenzern hatte es wohl niemand so schnell gesagt.“ Andreas schmunzelt. Er selbst sei von zwei, drei Leuten gefragt worden, ob das wirklich wahr sei.

Fotograf Jochen Ehmke, der das Foto zu diesem Artikel beigesteuert hat, erzählte der MZ, wie es entstanden ist. „Die Volkspolizisten, die bis dahin immer so grimmig geschaut haben, waren plötzlich sehr freundlich und meinten zu mir ,Sie müssen doch hier nicht anstehen, sie wollen doch fotografieren. Kommen sie doch rein’ sagten sie.“ Da habe er gemerkt, dass sich etwas verändert habe.

Dass so ein Rattenschwanz hinterherkommen würde, hätten sie nicht gedacht

Nach der Wende - irgendwann Anfang der 90er - hat Andreas zwei von denen wieder getroffen, die ihm damals zugerufen hatten: Zieh Dich um. „Die haben dann zu mir gesagt. Andreas - so wollten wir das nicht. Die waren mittlerweile arbeitslos, konnten reisen, wohin sie wollten, hatten aber kein Geld dafür.“ Dass so ein Rattenschwanz hinterherkommen würde, hätten sie nicht gedacht, hätten sie gesagt.

„Als wir dann in der Nachwendezeit zu Einsätzen gefahren sind, hieß es immer mal wieder uns gegenüber: ,Das gleiche Pack wie früher.' Ich habe dann gesagt, Nein, dass stimmt nicht. Ich musste meine Uniform wechseln, ich musste Schule machen - bundesdeutsche Gesetze lernen. Wir haben aber ein Problem - wir haben immer noch die gleichen Bürger. Da war dann meist Ruhe. Da haben sie mich verstanden.“

Heiß auf West-Streifenwagen

Wann aus der Volkspolizei Polizei wurde, daran kann sich Andreas nicht mehr genau erinnern. „Ich weiß nur noch, dass das ,Volks' am Streifenwagen mal überklebt wurde.“ Sie seien damals heiß auf ihre neuen Uniformen gewesen. „Ab dem Tag, an dem wir unsere neuen Uniformen trugen, war die Akzeptanz in der Bevölkerung anders. Von den meisten wurde man plötzlich mehr geachtet.“ Und sie seien auch stolz auf ihre ersten Funkwagen aus dem Westen gewesen. „Dass das manchmal alte Hitschen waren, war uns egal. Ich erinnere mich noch, dass ich mit einem T2 zu einer Unfallaufnahme fahren musste. Als ich die Tür aufschob, ist sie abgefallen. Ich habe sie in den Wagen gestellt und wir sind offen zurückgefahren.“

Nach dem 9. November seien sie praktisch führungslos gewesen. Die Vorgesetzten hätten sich vergraben. „Und wir haben das gemacht, was wir immer gemacht haben - die Leute geschützt.“ 1990/91 seien alle, die beim Volkspolizeikreisamt arbeiteten auf Stasimitarbeit überprüft worden. „Da gab es dann einige, die nachmittags nach dem Dienst nach Hause gingen, und am nächsten Tag waren sie nicht mehr da.“ Von den rund 300 Mann seien seiner Schätzung nach acht bis zehn Prozent aus dem Dienst ausgeschieden.

„Im Resümee muss ich sagen, ich lebe heute besser, als zu DDR-Zeiten - freier, materiell besser gestellt“, sagt Andreas, der immer noch Polizist ist. „Ich habe einen Eid auf die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland geschworen, und wenn ich einen Befehl verweigern würde, würde ich das auch heute dienstrechtlich zu spüren bekommen.“ (mz)