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Radegaster Testlauf für gesamte Republik

Von SYLKE HERMANN 19.03.2010, 21:15

RADEGAST/MZ. - Und tatsächlich: Es war das alte Kino von Radegast. Zwar nur ein Bruchstück dessen, ein Teil der Fassade, aber trotzdem unverkennbar. Für die Leser der Köthener Ausgabe das Fotopreisrätsel. Rudloff und die Radegaster mussten natürlich nicht rätseln. Das Kino war viele Jahre Ortsmittelpunkt, Treffpunkt für Jung und Alt.

Willy Rudloff rief sofort in der Lokalredaktion an, als er die Aufnahme sah. Sein Haus in der Zeitung. Wie es dazu denn gekommen sei, wollte er wissen und kündigte im selben Atemzug an, dass er jede Menge über das Objekt erzählen könnte. Was er wenige Tage später dann auch tat.

Der gesamte Gebäudekomplex gehört Rudloffs Familie seit 1919. Wann es gebaut wurde, belegt ein Holzbalken mit dem Schriftzug "Gebaut 1688" und darunter der Namen George Beker. Damit allerdings kann Willy Rudloff nichts anfangen. Aufgehoben hat er das gute Stück trotzdem. Genauso wie ein sorgsam gerahmtes Bild in schwarz-weiß. Darauf erkennt man, dass das Haus einmal ein Gasthof gewesen ist, nämlich "Gasthof zum Grenadier". "Nach 1945", erinnert sich der Radegaster, "musste es umbenannt werden." Aus dem "Grenadier" wurde - weil man die Lindenbäume unmittelbar vor der Haustür hatte - der "Gasthof zur Linde". Zum Gasthof gehörte ein Saal, 150 Quadratmeter groß. Ideal zum Schwofen. "Hier war immer was los", weiß der heute 75-Jährige.

Damals, Ende der 50-er Jahre, gehörte das Objekt seiner Mutter und seiner Tante. Die kamen irgendwann auf die Idee, aus dem Saal ein Kino zu machen. "Vielleicht war ihnen das mit dem großen Saal einfach zu viel", kann Rudloff nur vermuten. Im Oktober 1959 begann man mit dem Umbau. Ein "Theater der Freundschaft" war im Entstehen, die Radegaster Lichtspiele.

Rudloff, der erst im Jahr 2000 wieder nach Radegast zurückgekommen und in sein Elternhaus gezogen ist, hat etliche Zeitungsartikel gesammelt, die helfen, sich an die Geschichte und Geschichten aus der Heimat zu erinnern. Darunter ein Beitrag aus der "Freiheit" vom 16. Juni 1961. "Radegast erhält erstes Selbstbedienungskino unserer Republik" wurde da getitelt. "Das war schon was Besonderes", merkt Rudloff an. 20 Uhr war Eröffnung. Die Kinobesucher zahlten eine Mark auf allen Plätzen mit Kulturfonds, hieß es. Die Radegaster Lichtspiele waren nämlich ein Testkino für Kartenautomaten, das erste Automatenkino der Republik.

Das zentrale Entwicklungs- und Konstruktionsbüro Gotha hatte jenen Kartenautomaten entwickelt, der nun in Radegast zur Serienreife geführt werden sollte. Die "Freiheit" verschwieg den Sinn des Ganzen keineswegs, wie in Willy Rudloffs Ausschnitten schön nachzulesen ist: Man wollte die Aufhebung der in manchen Lichtspieltheatern unsinnig vielen Platzgattungen; man wollte einen Einheitspreis. Und man wollte Arbeitskräfte einsparen. Kassiererin und Platzanweiserin sollten "andere wichtige Aufgaben der Volkswirtschaft" übernehmen, hieß es damals in der Zeitung.

Willy Rudloff schmunzelt darüber. "So war das damals." Dass viele Kinogäste keine Mark zur Hand hatten und man die freundliche Bedienung im benachbarten Gasthof "Zur Linde" stets bitten musste, Geld zu wechseln, um den Kartenautomaten zu bestücken, gehört in die Anfangszeit der Radegaster Lichtspiele. Immerhin wird Frau Göhlitz lobend in der Zeitung erwähnt. Frau Göhlitz war die Tante von Willy Rudloff.

Am 30. Juni 1990 löst die Erbengemeinschaft - Willy Rudloff und seine Geschwister - das Mietverhältnis mit der Bezirksfilmdirektion Halle, Kreisfilmstelle Köthen. Im Juli 1990 wurde der Spielbetrieb eingestellt. "Wir hatten keine Vorstellung, wie das weitergehen könnte, wie das mit dem Filmverleih funktioniert." Außerdem seien in der Nähe andere, große Kinos entstanden. Da wäre für das Radegaster Traditionshaus, schätzt Rudloff, über kurz oder lang sowieso kein Platz gewesen. Der große Saal stand zunächst einmal leer. Zwischenzeitlich zog ein Baumarkt ein - und, nachdem die Geschäfte schlecht liefen, auch wieder aus.

Die Spuren des Kinos haben die Zeit überdauert. Noch heute sind Teile der Wandbespannung sichtbar. Aber viel mehr nicht. "Was soll ich damit?", zuckt der Rentner mit den Schultern. Das Dach müsste eigentlich saniert werden. 40 000 Euro würde das etwa kosten. Diese Investition mache keinen Sinn, "es steht doch sowieso leer".

Rund 1 000 Quadratmeter umfasst das Grundstück im Besitz der Erbengemeinschaft. Das Kino ist nur ein Teil davon. Nebenan, in der früheren Gaststätte, war mal ein Blumengeschäft. Erst führte es Willy Rudloffs Bruder, dann bis zum 30. Juni vergangenen Jahres seine Frau, die er dazu allerdings überreden musste, räumt der gelernte Chemiemeister ein. Ein paar Pflanzen, Blumentöpfe, der Verkaufstresen stehen noch im Geschäft. Doch Willy Rudloff weiß: Der Laden ist Geschichte - wie das Theater der Freundschaft.