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Köthener Geschichte Köthener Geschichte: Erinnerungen aus der Blumenstraße

Von Ute Hartling-Lieblang 19.02.2014, 20:55
Früher gab es in der Blumenstraße noch solche Eisenzäune, die fielen im Zweiten Weltkrieg allerdings der Rüstungsproduktion zum Opfer.
Früher gab es in der Blumenstraße noch solche Eisenzäune, die fielen im Zweiten Weltkrieg allerdings der Rüstungsproduktion zum Opfer. Heiko Rebsch Lizenz

Köthen/MZ - Wenn Gerhard Jost heute von seinem Grundstück aus den Blick über die Blumenstraße schweifen lässt, sieht er jedes Mal, wie viel sich hier seit seiner Kindheit verändert hat. Einige der alten Häuser wurden abgerissen, andere sind neu hinzugekommen. Doch der Zusammenhalt der Bewohner in der Straße sei noch so wie früher, sagt er.

Gerhard Jost wurde im April 1940 im Haus Blumenstraße 11 geboren, das sein Großvater um 1800 erbaut hat. „Die Hebamme, die mich auf die Welt geholt hat, war Frau Böhler“, erzählt er. Auf dem Grundstück gegenüber, dort, wo heute ein Parkplatz ist, befand sich früher der „Bleechjarten“, wie ihn alteingesessene Köthener nannten. Gemeint war damit ein Trockenplatz, auf dem die Leute gegen einen kleinen Obolus an den Pächter - den Postbeamten Runge - ihre Wäsche bleichen konnten. Das Grundstück selbst wurde später vom Reichsnährstand genutzt, es beherbergte zwischenzeitlich die Bauernpartei, war Kinderkrippe und ist heute eine Pflegestation.

Schutz gesucht

Während des Krieges flüchteten die Leute dorthin in den Luftschutzkeller, erinnert sich Gerhard Jost. Aus den Erzählungen der Mutter weiß er, dass sie bei einem der Luftangriffe auf die Köthener Junkerswerke gerade in Richtung Schrebergarten in Osterköthen unterwegs war, der in der Einflugschneise lag. Da sei sie schnurstracks zurückgelaufen. „Eine Bombe fiel genau auf unsere Laube“, schildert Jost, der sich gar nicht ausmalen möchte, was passiert wäre, wenn „wir wie immer dort gesessen hätten.“

„Durch die Erschütterung fiel bei uns der Hausgiebel ein“, schildert Jost. „Da konnten wir bis zu Gärtner Höhne schauen.“ Der sei übrigens ein Schulfreund von ihm. Später nahm die Mutter eine Hypothek auf, um den Schaden am Haus zu beheben. Weil der Vater im Krieg war, „mussten wir Kinder beim Steine-Klopfen helfen“, erinnert sich der Köthener.

Nach 1945 kamen zunächst die Amerikaner nach Köthen. In der Blumenstraße wurden damals Fenster und Türen vernagelt, weil die Frauen, deren Männer im Krieg waren, es mit der Angst bekamen. Einige von ihnen zogen deshalb in die Blumenstraße 11. „Sie hatten doch noch nie einen dunkelhäutigen Soldaten gesehen“, erklärt Jost.

Behütete Kindheit

„Trotz der schlechten Zeit wuchsen wir Kinder der Blumenstraße behütet auf“, blickt der heute 73-Jährige zurück. Im Schlossgraben wurde Indianer und Räuber gespielt, ansonsten spielte sich das Leben auf der Straße ab, beobachtet von den alten Leuten, die vorm Haus auf ihren Bänken saßen.

An der Ecke Blumenstraße/Leopoldstraße befand sich der Kaufmann Hoffmeier, bei dem es Mostrich und Sauerkohl lose gab. Mit ihrem Pferdewagen brachte die alte Frau Pasch auch den Leuten in der Blumenstraße die Milch. Oft fertigte die Mutter große Bleche voll Zuckerkuchen an, erinnert sich Jost, der wurde dann zum Bäcker Ernst in die Leopoldstraße zum Backen gebracht. „Wir hatten immer Hunger“, schildert er, zusammen mit den Nachbarskindern saßen dann alle um den Tisch und „der Kuchen starb den Heldentod.“ In der Vorweihnachtszeit wurde bei Bäcker Ernst auch Stolle gebacken. Weil die Rosinen knapp waren, wurden kurzerhand Sonnenblumenkerne als Ersatz genommen.

Nach dem Krieg arbeitete die Mutter halbtags bei Schuh-Kutz am Bärplatz, wo die Großmutter Kochfrau war. Daneben befanden sich der Herrenausstatter Georg Ketsch und Radio-Fricke. Wenn es kalt wurde, mussten die Kinder mit dem Handwagen zum Kohlehandel Streuber am Neustädter Platz ziehen. Gab es dort Eierkohle ohne Karten, liefen sie besonders schnell.

Schlossteich als Revier

„Der Schlossteich war unser Revier“, erzählt Gerhard Jost. „Oft sind wir dort im Winter die Hänge herunter gerodelt.“ So manches Mal sei er im Eis des Teiches eingebrochen. Beim Nachbarn Runge konnte der Junge dann seine Sachen trocknen, damit die Mutter nichts merkte.

Im Sommer zog es Jost und seine Freunde nach dem Ährenlesen oft ins Stadtbad. „Das war unsere beste Zeit“, sagt er. Der Eintritt kostete zehn Pfennig. „Die Zelle Nummer 55 am Ei gehörte unserer Meute“, schildert der Köthener. „Zur Meute gehörten damals Uwe Noll, Kurt Wrobrechski, Helmut Bandelmann, Manni Wieprecht, Umpi und ich“, verrät er. Auf dem Weg zum Stadtbad standen damals entlang des Ratswalles verlockende Apfelbäume, an denen man öfter mal geschüttelt habe, was dem Pächter gar nicht gefiel.

Heute veröffentlicht die MZ die 34. Folge ihrer Serie „Leser erzählen eine Geschichte“. Wir freuen uns über die große Resonanz, die diese Serie findet. Sie ist dazu angelegt, ein Stück Heimatgeschichte aus ganz individueller Sicht zu erzählen. Bisher ist uns der Stoff noch nicht ausgegangen. Wir würden uns aber freuen, wenn sich Leser melden, die das bisher Aufgeschriebene noch ergänzen können. Die Geschichten müssen sich nicht auf Köthen beschränken. (uli)

Kontakt: Ute Hartling-Lieblang, Tel 0349630922,

[email protected]

„Als wir älter wurden, war die Baggerkiete das Ziel“, schildert der Köthener. Von der „nackigen Woche“, die man dort veranstaltete, sollten die Eltern nichts wissen. Auch nicht von der einen oder anderen Mutprobe, die die Jungs an der Ziethe veranstalteten, die damals noch sauber war und in die man natürlich ebenfalls splitternackt hinein sprang.

Einige der Kumpels waren damals im Tierschutzverein bei Hunde-Böttcher, der Hunde abrichtete. „Da haben wir nach Hasenschlingen gesucht“, erzählt der 73-Jährige, zum Beispiel auf dem Gelände von Gärtner Wolf und Lochmann, dort, wo heute das „Saubörnchen“ ist. Nur selten wussten die Eltern, wo genau die Kinder rumräuberten.

Veränderungen

Während Gerhard Jost heran wuchs, veränderte sich das Bild der Blumenstraße, blickt er zurück. Kaufmann Hoffmeier musste der HO-Verkaufsstelle Platz machen, heute befindet sich in dem Eckhaus eine Spätverkaufsstelle. Noch gut kann sich Jost an den Butterkeller des Kaufmanns erinnern, wo es die Butter im Block gab.

Nach dem Krieg kehrten nach und nach die Väter heim. Auch Dachdecker Albert Hoffmann. „Das war für viele Hausbesitzer in der Blumenstraße ein großes Glück“, schilder Gerhard Jost. „Er fand immer einen Weg, den Leuten bei der Reparatur ihrer Häuser zu helfen.“ Und wenn ein rotes Inlett zerschnitten werden musste, um die Ritzen damit auszustopfen, damit es nicht hereinregnete.

Später lernte Jost selbst einen Handwerksberuf. Er wurde Maurer. Nach der Lehre im Kreisbaubetrieb wechselte er ins Baugeschäft Abel, später in die Wulfener PGH Bau. Zuletzt war er Betriebsmaurer im VEB Förderanlagenbau und leitete dort die Arbeitsgruppe Bau. 1980 übernahm er die Bewirtschaftung der Gaststätte „Osterköthen“, die er bis 1999 führte. Seit 1963 pflegte er in der Kleingartensparte einen Garten, den ihm der Großvater überlassen hatte. Der Spitzname Mole aus Kneiper-Zeiten blieb bis heute an Gerhard Jost hängen.

1963 heiratete Jost seine Frau Renate, eine geborene Göhre, und holte sie mit ins Elternhaus, wo es damals recht eng wurde. Das baufällige Nachbarhaus mit der Nummer 12 wurde zur Garage umgebaut. Nach der Wende habe es ein langes Hin und Her gegeben, schildert Jost, weil ihm der Grund und Boden nicht gehörte, den er später aber nachkaufen konnte. Die winzigen Häuser in der Blumenstraße 13 und 14 sowie drei Häuser am Großen Neumarkt wurden noch zu DDR-Zeiten abgerissen, dort bauten die Baptisten „eine schöne kleine Kirche“, sagt Gerhard Jost. Damit verschwand an dieser Stelle ein Schandfleck in unmittelbarer Nachbarschaft seines Grundstückes.

Dienstältester in der Straße

Nach und nach starben nun die älteren Nachbarn in der Blumenstraße, junge Leute kauften die Häuser und bauten sie aus, schildert der Köthener. Jost wohnt noch immer gern in der Blumenstraße, wo sich die Nachbarn noch grüßen, sich nach dem Befinden erkundigen und sich gegenseitig achten, wie er sagt. „Mit 73 Jahren bin ich heute der älteste Bewohner, der hier geboren wurde und noch immer hier lebt“, ist er stolz. In dem Haus Nummer 11 hat er seine Eltern bis zu deren Tod gepflegt, auch für seine Schwiegereltern war er bis zuletzt da. „Schon als Kind habe ich bei der Pflege meines Großvaters geholfen“, erzählt der 73-Jährige. Zur Familie von Gerhard Jost gehören eine Tochter, der Schwiegersohn und ein Enkel.

Jedes Jahr fährt Gerhard Jost seit der Wende mit seiner Frau und ehemaligen Gästen aus der Kneipe „Osterköthen“ an die Mosel, wo es ihm gut gefällt. Doch in die Blumenstraße kehrt er immer wieder gern zurück.

Gerhard Jost
Gerhard Jost
Heiko Rebsch Lizenz
Blick auf die teilweise noch unbebaute Blumenstraße, in der Gerhard Jost (l.) aufgewachsen ist und noch heute wohnt.
Blick auf die teilweise noch unbebaute Blumenstraße, in der Gerhard Jost (l.) aufgewachsen ist und noch heute wohnt.
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