Kleinwülknitz Kleinwülknitz: Blumen für fremdes Grab

Kleinwülknitz/MZ - Fritz Sorge, geboren 1920 in Potsdam; Gottfried Müller, geboren 1920 in Wilhelminenhof, Kreis Kyritz. Sechs Namen sind an den Grabplatten am Rande des Friedhofes von Kleinwülknitz angebracht. An der siebenten steht kein Name. Wer hier liegt, war unbekannt begraben worden. „Deutsche Soldaten ruhen hier“, verkündet die Aufschrift an einem Holzkreuz, einem für alle sieben. Und: „Gef. 15.4.1945.“
Elly Rühling kennt keinen einzigen von den Soldaten, die drei Wochen vor dem Kriegsende ihre letzte Ruhestätte in Kleinwülknitz fanden. Sie weiß nicht einmal genau, wie sie ums Leben gekommen sind. „Es wird erzählt, der kleine Trupp sei über Wülknitz nach Norden gezogen“, sagt die kleine Frau. „Offenbar nach Hause. Bei Köthen sollen sie erschossen worden sein. Wohl von den Amerikanern.“ Genau wisse das niemand mehr.
Die Namen der sieben kennt Elly Rühling allerdings besser als jeder andere. Denn seit mehr als 30 Jahren pflegt sie das Grab der sieben. Im Frühjahr und im Herbst wischt sie das Moos von den Platten. Pflanzt Blumen und rupft Unkraut. „Das waren doch junge Menschen“, sagt sie auf die Frage, warum sie die Pflege übernommen habe. Erst seitdem Wülknitz Ortsteil von Köthen ist, bekommt sie jährlich 50 Euro - als eine kleine Aufwandsentschädigung für die vielen Arbeitsstunden. Die Wülknitzer Ortsbürgermeisterin Karin Krietsch hatte sich dafür bei der Stadt eingesetzt. „Bis dahin tat Frau Rühling das unentgeltlich, auch Blumen bezahlte sie selbst“, so die Ortsbürgermeisterin, voll des Lobes.
Elly Rühling ist keine Urwülknitzerin, sondern eine „Eingeheiratete“. Darauf deutet schon ihre Aussprache hin. „Unsere Familie lebte vor dem Krieg in Ostpreußen, in Heydekrug“, erinnert sie sich. Jetzt gehört das zu Polen. „Dort gibt es viele Wälder, als Kinder sammelten wir Pilze und Blaubeeren.“ Nach dem Kriegsende mussten sie wie Tausende andere Deutsche Ostpreußen verlassen. „Wir konnten fast nichts mitnehmen“, schildert sie. „Zuerst gingen wir ins Erzgebirge, litten dort Hunger. Dann ging es nach Gosa in Anhalt. Einen freundlichen Empfang bei den meisten Einheimischen fanden wir Flüchtlinge nicht. “
Sie berichtet von der Not der Flüchtlinge. Aus getrockneten Kartoffelschalen habe man eine Art Bouletten gemacht: „Schlimme Zeiten waren es, ganz schlimme.“ 1954 heiratete sie den Wülknitzer Georg Rühling und zog zu ihm.
Von der Rückseite ihres Grundstücks ist es nur ein Katzensprung bis zum Friedhof: einige Dutzend Schritte über die Landesstraße und man ist da. Dass sie die Pflege des Soldatengrabes übernahm, war ein Zufall. „Mein Mann war Tischler und arbeitete in Klepzig zusammen mit einem anderen Tischler namens Rietze“, erinnert sich die Wülknitzerin. „Und dieser kannte Gottfried Müller, einen der sieben. Beide waren wohl zusammen bei der Wehrmacht. Als Müller mit den anderen sechs in Wülknitz begraben wurde, pflegte Familie Rietze zuerst selbst das Grab. Dann konnten sie es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tun.“ Also übernahm das Ehepaar Rühling die Pflege.
Elly Rühling hat auf dem Friedhof zwei Grabstätten zu versorgen. Die der sieben Soldaten. Und eine andere, am entgegengesetzten Ende. Georg Rühling, 1932-1985, ist hier zu lesen. Ihr Mann. Und: Lothar Rühling, 1955-2010. Ihr Sohn. Eine kleine Bank steht davon. „Mein Mann ist zu früh gegangen“, sagt die grauhaarige Frau leise. „Der Junge auch, er hatte Zucker. Mir wäre es lieber, wenn ich an seiner Stelle wäre“. Die Stimme zittert, die Augen werden feucht. Viele Schicksalsschläge musste Elly Rühling in ihrem Leben einstecken. Vielleicht deshalb hat sie so viel Mitleid mit den sieben 1945 gestorbenen Soldaten?
„Früher kam der Vater von Gottfried Müller ab und zu zum Grab seines Sohnes, jetzt sind das die Geschwister, die irgendwo bei Bremen wohnen und schon über 80 sind. Sie kommen mit dem Zug und dann gehen wir zusammen auf den Friedhof.“ Von den anderen toten Soldaten hätten sich nie Verwandte gemeldet. Vielleicht gebe es keine.
„Ich will die Gräber pflegen, solange ich das noch kann“, sagt die Wülknitzerin. Dann übernimmt die Tochter Margot Fricke diese Aufgabe. „Sie hat es schon versprochen: ,Mutti, wenn du nicht mehr kannst, mache ich es’“, sagt Elly Rühling. „Ich bin ja schließlich nicht mehr die Jüngste.“
Das ist sie nicht. Am heutigen Donnerstag wird Elly Rühling 80. Gefeiert wird im Familienkreis. Die Wülknitzerin hat drei Enkel und drei Urenkel, der Jüngste ist fünf. Das sind Lichtblicke in ihrem Leben. Gern denkt sie an ihre eigene Kindheit und Jugend zurück, auch wenn diese schwer war. „Damals war der Zusammenhalt bei den Menschen viel enger“, sagt sie. „Heute lebt jeder für sich. Der größte Traum von vielen ist, ein größeres Auto zu haben.“
