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Friedliche Revolution Friedliche Revolution: Im Trabi nach Halle zum Stasi-Knast

Von HELMUT DAWAL 23.10.2009, 16:31

KÖTHEN/MZ. - Dafür hebt er sich seit Jahren die Taschenkalender auf. Die Stichpunkte darin reichen aus, um ins Gedächtnis zurückzurufen, was sich wann und wo abgespielt hat. Auch zum 9. November 1989 findet sich in Elzes Kalender eine Notiz und lässt diesen geschichtsträchtigen Tag wieder lebendig werden.

"Wir saßen am Abend bei Familie Viertel zusammen. Horst-Peter Lämmler war mit dabei und noch einige andere vom Neuen Forum. Wir bereiteten die nächste Kundgebung vor, die am 13. November in der Jakobskirche stattfinden sollte", erinnert sich Elze. Plötzlich sei jemand ins Zimmer gekommen und habe mitgeteilt, dass die Grenze offen ist. Alle halten es zunächst für einen Scherz, doch die Nachricht wird zur Gewissheit. "Wir waren komplett überrascht, das hatte niemand erwartet." Doch die Runde ist sich schnell einig, weiter an der nächsten Demo zu arbeiten. Die findet wie geplant vier Tage später in der Jakobskirche statt.

Drei Monate zuvor. Elze und Lämmler, die seit Jahren eine enge Freundschaft verbindet, sitzen zusammen. Sie kommen auf Ungarn zu sprechen und die vielen Menschen aus der DDR, die über dieses Land den Weg in den Westen genommen haben. "Auch aus unserem Freundeskreis haben viele der DDR den Rücken gekehrt. Das hat uns sehr betroffen gemacht", erinnert sich Elze an diesen Sommerabend. Den gleichen Weg zu nehmen, kommt für beide aber nicht in Frage. Elzes Sohn ist drei Jahre alt, seine Tochter gerade erst geboren. "Mit den Kindern dieses Risiko aufzunehmen, das war mir einfach zu hoch", sagt Rainer Elze. Lämmler sieht es ähnlich, seine Frau ist zu dieser Zeit hochschwanger. Irgendetwas, da sind sich beide einig, muss aber passieren. "Das Leben wurde immer unerträglicher. Die Unzufriedenheit der Menschen war groß", bringt es Elze auf einen kurzen Nenner.

Erst konspirativ, dann offen

Über die westlichen Fernseh- und Radiosender erfahren sie vom "Neuen Forum", das sich in der DDR gegründet hat. Das Anliegen dieser Bürgerbewegung, die den "Aufbruch '89" deklariert hat, spricht Lämmler und Elze aus dem Herzen. Sie suchen den Kontakt zu den Initiatoren. Mitte September gibt es schließlich in Köthen ein "Neues Forum", zu deren ersten Mitgliedern auch Ronald und Norbert Viertel, Wilfried Häckel und Andreas Lawitschka gehören.

Das Netzwerk wird größer. Es agiert anfangs konspirativ. Mit der Geheimhaltung ist es aber vorbei, als Elze und Lämmler ihre Namen und Adressen unter den Aufruf des "Neuen Forums" setzen und diesen verteilen. Was natürlich Folgen hat. Sie werden verhaftet und verbringen einen Tag im "Roten Ochsen" in Halle. Das passiert am 12. Oktober.

"Am Morgen standen drei Herren vor meiner Wohnung mit vorgehaltenen Pistolen. Mit einem Trabi haben sie mich nach Halle gefahren", schildert Rainer Elze. Lämmler wird von der Stasi sogar aus dem Bett geholt und findet sich ebenfalls in dem berüchtigten Gefängnis wieder. Anfangs, so Elze, verläuft das Gespräch recht freundlich. "Können wir nicht zusammenarbeiten, wir wollen doch alle den Sozialismus", äußert ein Stasi-Mitarbeiter. Elze lässt sich auf dieses Angebot nicht ein und ist auch nicht bereit, Namen von weiteren Mitgliedern des "Neuen Forums" zu nennen, die man von ihm fordert. "Von da an wurde die Gesprächsatmosphäre sehr eisig."

Für den Fall einer Verhaftung haben Lämmler und Elze Vorkehrungen getroffen. "Beide haben wir dafür gesorgt, dass sich jemand um unsere Familien kümmert, falls wir verschwunden sein sollten", erzählt Elze. Und über Kanäle der Kirche sei organisiert worden, dass die Namen Elze und Lämmler sofort dem Radiosender RIAS zugespielt würden, sollten sie nicht auf ihrer Arbeit erscheinen oder bis zum Abend zu Hause sein. "Das habe ich den Stasi-Leuten beim Verhör mehrfach gesagt, und das scheint gewirkt zu haben." Am frühen Abend werden Elze und Lämmler wieder auf freien Fuß gelassen.

Nun arbeitet das Köthener "Neue Forum" mit offenem Visier, sieht sich aber vielen Störversuchen der Sicherheitskräfte ausgesetzt. Am 17. Oktober soll es in der Gröbziger Bibliothek, in der Horst-Peter Lämmler zu dieser Zeit arbeitet, einen Diskussionsabend geben. Der Stasi gelingt es aber, dieses Treffen zu unterbinden. Der Zugang zur Bibliothek ist versperrt, sogar die Straßen nach Gröbzig werden blockiert.

Aufzuhalten ist die Bewegung jedoch nicht mehr. Am 31. Oktober lädt das "Neue Forum" zu einer Versammlung in das Wolfgangstift ein, verteilt zuvor Handzettel. Deklariert ist der Abend als Veranstaltung zum Reformationstag. "Es kamen Massen von Menschen. Der Gemeindesaal reichte nicht aus", blickt Rainer Elze zurück. Die Veranstaltung wird kurzerhand in die Jakobskirche verlagert, sehr zum Ärger des damaligen Kreisoberpfarrers. "Im Unterschied zu anderen Städten, wo die evangelischen Kirchen oft der Ort solcher Veranstaltungen waren, haben uns die Kirchen hier in Köthen nicht wirklich unterstützt", sagt Elze. Was ihn aus heutiger Sicht nicht weiter verwundert, war der damalige Kreisoberpfarrer nach seinen Worten doch ein Stasi-Informant.

Rund 10 000 Menschen kommen

Nach dem Gottesdienst in der vollbesetzten Kirche versucht der Pfarrer tatsächlich, die Menschen nach Hause zu schicken. Die wollen aber nicht und bestehen lautstark darauf, dass sich das "Neue Forum" äußern kann.

Weil der Druck der Bürger so groß ist und sie Antworten zu vielen Fragen haben wollen, werden Elze und Lämmler am nächsten Tag beim Rat des Kreises vorstellig. Dort ist man bereit, sich dem "Dialog mit den Bürgern", wie diese Gespräche von der Parteiführung mittlerweile bezeichnet werden, zu stellen. Als Ort wird das Theater vorgeschlagen. "Damit waren wir aber nicht einverstanden. Wir hatten ja gesehen, dass die Kirche kaum ausreichte, um alle Menschen aufzunehmen."

Man einigt sich auf das Köthener Stadion. Dort versammeln sich am Abend des 2. November rund 10 000 Menschen. "Wir waren überwältigt von diesem Zuspruch", beschreiben Elze und Lämmler. Die Menschen machen ihren großen und kleinen Sorgen Luft, stellen viele kritische Fragen, die längst nicht alle beantwortet werden können.

Das Aufbegehren so vieler Köthener beflügelt das "Neue Forum", sich noch stärker in die Umgestaltung der Gesellschaft einzubringen. "Uns allen ging es damals um eine bessere DDR, endlich frei reden, reisen, sich versammeln können. Es sollte nicht mehr sein, dass Stasi und Partei allein über die Menschen bestimmen", sagt Rainer Elze. Die deutsche Einheit sei in diesen Tagen überhaupt kein Thema gewesen.

Die Demo im damaligen Stadion der DSF ist die einzige, die Köthen in diesem Ausmaß erlebt. Polizei und Stasi-Leute bewachen die Veranstaltung, Verhaftungen oder gewaltsame Übergriffe gegen die Teilnehmer gibt es aber nicht. In den Tagen und Wochen darauf folgen ungezählte Beratungen und Foren auf allen Ebenen und zu vielen Themen. Das "Neue Forum" erfreut sich großen Zulaufs. Anfang Dezember arbeiten über 100 Menschen aktiv in der Bürgerbewegung. "Das ganze Spektrum war vertreten, vom SED-Genossen bis zu Leuten von rechts", beschreibt Elze.