Ein außergewöhnlicher Normalo
KÖTHEN/MZ. - Warum er das getan hat, bleibt auch nach der Lesung am Freitagabend ungeklärt, denn was Lämmler im Awo-Kulturkeller in der Rüsternbreite vortrug, war über weite Strecken alles andere als normal - und Lämmlers Beteiligung daran ebenso wenig.
Im Rückblick sind die späten 60-er und die 70-er Jahre in der DDR ohnehin nicht das Normale gewesen. Schon eher ein Aufbruch nach politisch sehr rigiden Fünfzigern: Zumindest was die Pop-Kultur anging. In den fünfziger Jahren musste man noch damit rechnen, aus der FDJ geschmissen zu werden, weil man Ringelsöckchen trug. Um 1960 musste man noch fürchten, Niethosen (für jüngere Leser: Das war mal der Tarnname für Jeans) zu tragen. Und wem Mitte der Sechziger die Haare beatlesgleich langsam über die Ohren wuchsen, konnte als Gammler (vulgo Hippie) durchaus vom Lehrer zum Friseur geschickt werden.
Prägende Figur der Szene
Aber irgendwann hatte es auch die Parteibürokratie geschnallt, dass das alles nicht helfen würde gegen "Yeah, yeah, yeah" und Jugendkultur. Auch in Köthen nicht - und da kommt Horst-Peter Lämmler ins Spiel. Der war nämlich, unter dem Namen "Ryngo", eine der prägenden Figuren der Szene zwischen Speisesaal, Hub, Artur Becker, "Blauem Bock" und Osterköthen - und wo sonst noch der Bär steppte vor 30, 40 Jahren.
Lämmler wird in diesem Jahr 60, und da wird es langsam Zeit, die Erinnerungen aufzuschreiben. Der diplomierte Kulturwissenschaftler, der nach der Wende zeitweilig Kulturdezernent in Köthen war, gab am Freitag einige Episoden seiner
frühen Vita zum besten. Einiges aus der Armeezeit, die einem Freigeist wie Lämmler besonders schwer gefallen ist. Einiges aus seiner Zeit als Hilfspfleger im Krankenhaus Süd, als Lämmler noch hoffte, mal Medizin studieren zu können, ehe er dann zum Bibliothekar ausgebildet wurde - obschon ihm relativ früh klar war, dass er nach dem Studium keine Lust haben würde, täglich acht Stunden in einer Bibliothek zu arbeiten. Und es gibt einiges aus seinen wilden Jahren mit diversen Rockbands, denen er als Moderator, Texter und - heute würde man sagen - Manager zur Seite stand.
Was letzteres angeht, so verbindet sich Lämmlers Name vor allem mit "Set Köthen" - einer Band, die von Oebisfelde bis Cottbus spielte, der man für die Region durchaus Kultstatus zusprechen darf, nicht zuletzt Lämmlers wegen, an dessen Auftritte am Bühnenrand sich auch der Autor des Textes noch ganz gut erinnern kann - auch wenn er seinerzeit von "Ryngos" Show nicht immer begeistert war. Das war, nun ja, auch eher was für die Mädels im Saal.
Zuhörer lobt Realismus
Und weil das so war, spielen wilde Weibergeschichten in "Schatten, Schemen, Scharlatane" auch keine Nebenrolle. Jedenfalls nicht, wenn man die Auswahl der Episoden für die Lesung zugrunde legt. Da lässt Lämmler tiefe Einblicke in eine promiskuitive und alkoholgeschwängerte Szene zu, an der er selbst intensiv teilhatte. Manchmal mag seine Sprache dabei ein wenig grob im Ohr klingen, zu wenig literarisch, zu sehr dokumentarisch. Aber es ist immer stimmig, "realistisch", wie anschließend ein Zuhörer Lämmler lobt. Und nach den "Feuchtgebieten" sind ja die letzten Tabus an dieser Stelle ohnehin den Bach hinuntergegangen, ob es nun den Blowjob hinter der Bühne betrifft, bei einem Quickie aufgelesene Filzläuse an delikaten Stellen oder anderweitige Vergnügungen und aus Vergnügungen herrührende Missvergnügungen.
Man merkt Lämmler, der an seiner früheren Frisur nicht viel geändert hat und auch ansonsten gelegentlich im jugendlichen Habitus schwelgt, beim Lesen schon an, dass er diesen Zeiten auch ein wenig nachtrauert. Nicht nur, weil es die Jugendzeit war, sondern weil es eine Jugendzeit war, in der man, wenn man wirklich wollte, viel mehr Spielräume zum Widerspruch und zum Anderssein hatte, als man heute der DDR öffentlich zuzutrauen gewillt ist. Die Achtziger waren da - bezogen auf den Härtegrad der Daumenschrauben - schon wieder ganz anders. Insofern sind Lämmlers Erinnerungen auch ein kleiner subjektiver Blick in ein Stück DDR-Geschichte.
"Ich bin vom Gitarristen von Set angesprochen worden", erzählt Lämmler ein Stück Entstehungsgeschichte. Es gebe nun schon so viele Erinnerungen von DDR-Bands, "und ob wir da nicht ein Mosaiksteinchen beisteuern wollten". Ein Anruf zur rechten Zeit: Lämmler hatte schon eine Stichwortsammlung angelegt und konnte relativ unverzüglich losschreiben.
Was für ihn keine Last, sondern viel mehr eine Freude war - schließlich hatte er schon vor 30 Jahren dafür gesorgt, dass "Set Köthen" über 50 Prozent eigene Titel im Programm hatte, darunter Sachen wie "Große Kinderaugen" - den Text trug Lämmler am Freitag als Einstimmung vor. Lämmler schreibt das Buch in Ko-Produktion mit Dr. Wolfgang "Wolle" Decker, einst wilder Gitarrist in der Truppe. Ein Buch, das von beiden Buchdeckeln aus beginnen soll - wobei man sich in der Mitte trifft und in derselben Geschichte.
"Wir waren in der vergangenen Woche beim Lektor", sagt Lämmler. Der habe das Projekt sehr interessant gefunden und Änderungen vorgeschlagen. "Dabei sind wir jetzt." Wenn alles gut laufe, gehe das Buch Ende des Jahres in Druck "und falls es nicht klappt, sehen wir uns anderweitig um", sagt Lämmler.
"Ryngo" statt Ringo
Dessen Spitzname in der seltsamen Schreibweise noch einer schnellen Aufklärung bedarf. "Ryngo kommt natürlich von Ringo Starr, dem Beatles-Drummer", sagt Lämmler. "Ich war ja ursprünglich Schlagzeuger, aber andere waren besser, da habe ich es sein lassen. Aber den Namen Ryngo habe ich bis heute behalten."