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Anhalt-Bitterfeld Anhalt-Bitterfeld: «Neues Postamt» wurde zur Heimstatt

Von LOTHAR GENS 31.07.2011, 15:48

KÖTHEN/MZ. - Wie eine Erlösung müssen die politische Wende in der ehemaligen DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands diejenigen empfunden haben, die dereinst nach dem 2. Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten. Zum Beispiel die Sudetendeutschen. In Köthen jedenfalls nutzten sie die Gelegenheit, endlich offen sagen zu dürfen, dass sie ihre Heimat, die sich jetzt in Tschechien befindet, immer noch lieben. Eine von ihnen - Annette Effenberger - lud damals eine kleine Gruppe von Leuten, die wie sie aus Reichenberg (dem heutigen Liberec) stammen, kurzerhand zu einem Treff im Köthener Bahnhofshotel ein. Das war die Geburtsstunde der Kreisgruppe Köthen der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Und die gibt es seither fast auf den Tag genau 20 Jahre.

In denen viel passiert ist. Schnell ist die Gruppe gewachsen, es sprach sich herum. Man traf sich in diversen Lokalitäten, um die heimatliche Kultur zu pflegen, sich gemeinsam zu erinnern, Unternehmungen zu planen. In den Gaststätten war zwar vieles möglich, eines aber nicht: ein richtiges Vereinsleben. Und noch eines kam hinzu, wie die Gründerin und noch heutige Vorsitzende der Kreisgruppe Köthen, die 86-jährige Annette Effenberger, schmunzelnd sagt: "Die Ober waren sicher andere Trinkgelder gewohnt. Sudetendeutsche aber sind sehr sparsam, sie brachten sich zum Kaffee manchmal eigenen Kuchen oder selbst geschmierte Schnitten mit."

Was zu den Bemühungen führte, sich selbst etwas aufzubauen. Diese entwickelten sich zu einer regelrechten Odysee. Der Kauf einer Villa wurde verworfen (viel Geld nötig, außerdem ratterten Züge vorbei). In einem Hinterhaus in der Georgstraße, in dem man bereits begonnen hatte, Räume zu renovieren, gab es Unstimmigkeiten mit Bewohnern. Man gab dort auf, suchte weiter. Und mietete schließlich die ehemaligen Schulküchennebenräume im Artur-Becker-Klub in der Wallstraße. In ihrem Mitteilungsblatt für die Kreisgruppe, das Annette Effenberger von Anfang an erarbeitete und herausgegeben hat, schreibt sie zum 20-jährigen Jubiläum: "Mit Begeisterung durchbrachen wir eine über 70 Zentimeter dicke Wand, mauerten eine Küche an, tapezierten und waren glücklich. Wir hatten einen Treffpunkt und eine Heimatstube."

Doch das Glück sollte nur knapp fünf Jahre währen. Die Treuhand verkaufte das Objekt. Wieder waren die Sudetendeutschen auf der Suche - bei inzwischen viel kleiner gewordenem Angebot. Doch schließlich fand sich - mit Unterstützung des damaligen Oberbürgermeisters Rainer Elze - das "Neue Postamt" in der Edderitzer Straße - bis heute die Heimstatt der Kreisgruppe.

Rund 240 Mitglieder

Doch ehe sie es werden konnte, gab es eine Menge Arbeit für Annette Effenberger und ihre Kreisgruppenmitglieder. Im Erdgeschoss wurde mit sparsamen Mitteln umgebaut und eine "Begegnungsstätte mit musealem Charakter" eingerichtet: die neue Heimatstube. Um die man - nebenbei gesagt - gelegentlich beneidet wird. Denn die ist wirklich gemütlich und mit jeder Menge Erinnerungsstücken eingerichtet. Wobei ein Großteil der Tische und Stühle aus dem stammt, was Stadt- und Landkreisverwaltung eigentlich mal entsorgen wollten, und was sich die Sudetendeutschen dann "geschnappt" haben. Anderes - zum Beispiel die Eckbänke und mancher Teppich - gesellten sich im Laufe der Zeit hinzu. Nicht zu vergessen, die vielen Erinnerungsstücke, die Annette Effenberger zum großen Teil von Verwandten, Freunden und Bekannten aus der tschechischen Republik mitgebracht hatte.

Doch der fixe Treffpunkt ist längst nicht alles im Leben der momentan rund 240 Mitglieder starken Köthener Kreisgruppe. Jede Woche am Dienstag gibt es einen Vortrag von Annette Effenberger - schon 20 Jahre lang. Schon seit langem gibt es einen Trachtenchor (alle Trachten selbst genäht - zum Teil unter Anleitung aus den alten Bundesländern), der Veranstaltungen mit gestaltet und aufgrund seiner Originalität schon landes- und auch bundesweit (zum Beispiel bei den Sudetendeutschen Tagen) im Einsatz war. Zahlreiche Veranstaltungen, wie Fasching oder Weihnachten in der Hochschul-Mensa oder im alten Köthener Theater, haben in den vergangenen Jahren das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt.

Das jedoch scheint ohnehin schon groß. Denn wenn auch Annette Effenberger über die ganzen Jahre hinweg quasi die gute Seele der Kreisgruppe Köthen der Sudetendeutschen gewesen ist - ohne die Unterstützung vieler Mitglieder hätte sie das niemals leisten können, wie sie selbst einschätzt. Immerhin gibt es vier Ortsgruppen zu betreuen, einzelne Heimatgruppen darüber hinaus, da gibt es die Kassierung und die Geburtstagsbetreuung, die Helfer in der Küche bei Veranstaltungen und noch vieles mehr.

Viele gemeinsame Reisen

Eins der Dinge aber, die die Vorsitzende selbst und mit Begeisterung bis vor kurzem in der Hand behielt, sind die gemeinsamen Reisen - ob sie nun in die Heimat führten oder anderswohin. Reiserouten, Hotel-Vorplanungen, die Erklärungen unterwegs - all das war Sache von Annette Effenberger. Inzwischen kommen über 100 Mehrtages- und mindestens 60 Eintagesfahrten zusammen.

All diese Aktivitäten haben der Kreisgruppe schon viel Anerkennung eingebracht. Auch von namhaften Persönlichkeiten. Begrüßt werden konnten zu Veranstaltungen u. a. der ehemalige Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Wolfgang Böhmer, der ehemalige Innenminister Manfred Püchel und der tschechische Generalkonsul.

Geschuldet sein dürfte diese Anerkennung auch der Tatsache, dass sich die Köthener Kreisgruppe der Sudetendeutschen von Anbeginn an nie in die Nähe von Revanchisten gerückt sehen wollte. Annette Effenberger: "Uns geht es um Heimatliebe und Brauchtumspflege. Die Geschichte kann man zwar nicht vergessen. Aber ich kenne auch die Leute, die jetzt in meinem Haus wohnen. Sie sind später geboren, und ich kann ihnen nichts verübeln. Schon gar nicht, dass sie das Haus prima saniert haben."