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Kindheitserinnerungen Kindheitserinnerungen: Jessener Autor schreibt Buch

Von Sven Gückel 13.09.2015, 15:52
Beim Schreiben seines Buches wurde Bernhard Kattoll (r.) aktiv durch den Journalisten Lothar Günther unterstützt.
Beim Schreiben seines Buches wurde Bernhard Kattoll (r.) aktiv durch den Journalisten Lothar Günther unterstützt. Sven Gückel Lizenz

Jessen - Das Lesen der Zeitung und Verfolgen der Nachrichten fällt Bernhard Kattoll derzeit schwer. Immer dann, wenn von den Flüchtlingsströmen berichtet wird, werden in ihm Erinnerungen an seine Kindheit wach.

Es sind Bilder, die er nicht vergessen kann. Auch sieben Jahrzehnte später, im Alter von fast 80 Jahren, sieht Bernhard Kattoll jedes Ereignis vor sich, als wäre es gestern gewesen. Er sieht einen kleinen Jungen, der hungernd durch fremde Länder zieht, fernab der Geschwister, von denen er nicht einmal weiß, ob sie noch leben. Bernhard Kattoll wurde 1935 in Ostpreußen, im Dorf Mulden, geboren. Vier Jahre später löste Deutschland den zweiten Weltkrieg aus und schickte seine Truppen zuerst in den Osten Europas, dorthin, wo Bernhard Kattoll bis dahin eine unbeschwerte Kindheit verlebte. Sein Vater wurde das erste Opfer dieses Wahnsinns. Er musste sich dem Militärdienst stellen und kehrte nicht zurück.

Vor drei Jahren wurden Passagen der Leidensgeschichte von Bernhard Kattoll im Jessener Heimatkalender abgedruckt. Seither wünschten sich Leser eine Fortsetzung. Im Buch „Ich war doch erst neun“ erzählt Kattoll nun die ganze Geschichte, spannte um sie den Rahmen der Jahre 1944 bis 1966.

Am Mittwoch, 16. September, möchte er seine Arbeit öffentlich vorstellen. Ab 18.30 Uhr liest Benita Junge in der Buchhandlung Fischer aus dem Buch ihres Vaters. Die Moderation übernimmt Lothar Günther. (sgü)

Währenddessen wurde das Leben für die Familie immer härter. Um ihr Dasein zu sichern, verließen Bernhard und dessen Bruder Reinhold immer öfter ihr Dorf, um in Litauen Lebensmittel zu beschaffen. Eine solche Tour warf das Leben von Bernhard Kattoll völlig aus der Bahn. Mit vollen Rucksäcken machten sich die beiden Brüder wieder auf den Heimweg, als sie, übermüdet und erschöpft, von einem Fremden eine Bleibe zum Schlafen angeboten bekamen. Doch die Freude währte nur kurz. Am nächsten Morgen waren ihre Rucksäcke leer, der Fremde verschwunden. „So konnten wir nicht zu unser Mutter zurückkehren“, erinnert sich Kattoll. Während sein älterer Bruder erneut nach Litauen ging, schickte er den neunjährigen Bernhard heim. Dort lag die Mutter mittlerweile im Sterben. Kurz vor ihrem Tod riet sie dem Sohn, die Region zu verlassen, den russischen Truppen auszuweichen.

Auf sich allein gestellt, durchlebte Kattoll eine unfassbare Odyssee. Er verirrte sich, bestieg falsche Züge und landete schließlich in Lettland, wo er aufgegriffen und in ein Kinderheim gesteckt wurde, als einer von zwei Deutschen unter lauter Russen. Die sahen in dem Gleichaltrigen einen Faschisten und quälten ihn bis aufs Blut. Vor Schlimmerem bewahrt hat ihn nur die Flucht. Diese führte ihn zu Schan Eilenberg, einen alleinstehenden Mann, der den verunsicherten Jungen bei sich aufnahm und später adoptierte. „Buba“, wie er seinen Zögling nannte, besuchte die Schule, absolvierte eine Lehre zum Kraftfahrer, heiratete und wurde Vater eines Sohnes. „Mit Deutschland hatte ich längst abgeschlossen. Im Kopf war ich ein Lette“, bemüht er seine Erinnerungen.

Dass Bernhard Kattoll heute in Jessen lebt, verdankt er neben anderen seiner Schwester Traute. Sie ließ ihn über das Rote Kreuz suchen, doch der Erfolg blieb zunächst aus. Schuld war der Namenswechsel des Jungen. Doch mit Hilfe seines Pflegevaters und der DDR-Botschaft in Moskau bekam die Geschichte noch ein Happy End. 1966 reiste Bernhard Kattoll, von seiner lettischen Frau inzwischen geschieden, in die DDR aus. Eine neue Heimat fand er in Jessen, wo sein Bruder inzwischen lebte. Auch Traute war ganz in der Nähe, ist in Torgau sesshaft geworden.

Immer wieder hat Bernhard Kattoll Erlebnisse seiner heutigen Frau Christa, der gemeinsamen Tochter Benita Junge und Enkel Henrik erzählt. „Schreib sie auf“, forderten sie von ihm. Unterstützung holte sich der Jessener von Lothar Günther, Autor und Journalist aus Axien. Er beriet den Schreiber, formte Passagen zu dem, was sie heute sind - ein 135 Seiten starkes Buch mit dem Titel „Ich war doch erst neun“. Das Cover gestaltete Heinz-Helge Schulze aus Holzdorf, layoutet und gedruckt wurde das Werk (Auflage 100 Stück) durch die Bücherkammer Herzberg.

Kurz vor seinem 80. Geburtstag hält Bernhard Kattoll seine Lebenserinnerungen nun glücklich in den Händen. Sie sollen ein Geschenk an seine Freunde und die Familie sein, sind aber auch als Mahnung gedacht, wie Krieg und Vertreibung ein Menschenschicksal bestimmen können. Aktueller als heute hätte Bernhard Kattoll sein Buch nicht veröffentlichen können. (mz)