1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Jessen
  6. >
  7. Gastronomie in Jessen: Gastronomie in Jessen: Wiener Charme im Hotel "Am Wald"

Gastronomie in Jessen Gastronomie in Jessen: Wiener Charme im Hotel "Am Wald"

Von Thomas Tominski 14.11.2018, 15:30
Der gebürtige Wiener Michael Berthold ist Chef des Jessener Ausbildungshotels „Am Wald“ und kann ein Wiener Schnitzel zubereiten.
Der gebürtige Wiener Michael Berthold ist Chef des Jessener Ausbildungshotels „Am Wald“ und kann ein Wiener Schnitzel zubereiten. Thomas Tominski

Jessen - Die Zubereitung eines Wiener Schnitzels beherrscht Michael Berthold aus dem Effeff. Das Kalbfleisch aus der Oberschale muss hauchdünn sein, sagt er, und zeigt mit Daumen und Zeigefinger die gewünschte Dicke an. Außerdem wird das Fleisch doppelt paniert. „Nach dem Braten kommen als Deko Zitrone, Sardellen und Kapern obendrauf“, so der gebürtige Wiener, der Koch und Kellner von der Pike auf gelernt hat.

„Ich hatte keine andere Chance“, meint er, denn für den jüngsten ihrer drei Söhne habe seine Mutter die berufliche Karriere festgelegt. Sie hat einen Nachfolger für die drei Lokale gesucht, blickt der 50-Jährige zurück, der seinerzeit eigentlich Jura studieren will. Im Endeffekt ist alles anders gekommen. Michael Berthold kocht 1986 auf der Leipziger Messe für die Fremdenverkehrsvertretung Österreichs und erwischt prompt einen Pfeil Amors.

Eine Lehrschwester aus Jena schlendert über die Messe und erobert das Herz des Wieners im Sturm. Ein Jahr später zieht er hinter den Eisernen Vorhang. „Meine Mutter dachte, sie sieht mich niemals wieder“, sagt er und lacht dabei.

Verdacht auf Spionage

Der Start in der DDR verläuft für den „Neu-Bürger“, der seine Staatsbürgerschaft behält, etwas holprig. Er darf nicht gleich zu seiner Freundin, sondern wird von der Staatssicherheit verhört. „Es bestand der Verdacht, dass ich vielleicht ein Spion bin.“ Die Verhöre bringen nichts.

Berthold zieht mit der damaligen Liebe seines Lebens zusammen und erzählt, dass er in der DDR eine tolle Zeit verbracht hat. Die Möglichkeit der Ausreise habe er einmal genutzt. Bei der Einreise haben ihn die Zöllner an der Grenze 18 Stunden schmoren lassen.

Der Österreicher lernt schnell, dass Mangelwirtschaft auch ihre Sonnenseiten hat. Er verkauft seinen klapprigen Golf für gutes Geld und legt sich für ein paar Tausender weniger einen Trabant zu. „Auf dieses Auto lasse ich nichts kommen“, so der 50-Jährige, der mit seiner Frau nach der Wende durch halb Europa tourt.

„Zelt rein und los“, erinnert er sich und erzählt von Fahrten nach Frankreich, Italien und Österreich. 1994 steht für den Trabi die Abschiedstour auf dem Programm. Berthold bewundert noch heute seinen Heldenmut, denn Großglockner und blanke Bremsbeläge passen nicht zusammen.

„Nach jeder zweiten Serpentine haben wir mit glühenden Bremsen angehalten.“ Trotz Scheidung und Zwischenstation Norderney kehrt er wieder in die neuen Bundesländer zurück. „Da gab es eine nette Frau in Bernburg“, meint er.

Fünf Jahre bleibt er in der Saalestadt, dann startet Berthold 2006 in Köthen wieder solo durch. Hier läuft ihm der Geschäftsführer der BVIK gGmbH (Bilden, Vermitteln, Integrieren, kommunale Dienstleistungen), Ulrich Heller, über den Weg, der einen Manager für ein Objekt in Rottleberode sucht. „Er ist ein Visionär. Wo ich eine Baustelle sehe, sieht er ein fertiges Objekt“, streicht Berthold die Qualitäten seines Chefs heraus.

Aufbau einer Wohngruppe

Seit Juni leitet er das Ausbildungshotel „Am Wald“ in Jessen. Der gebürtige Österreicher trägt das schwarze Hemd. Wer sich in der Branche ein wenig auskennt, weiß: Diese Farbe ist für den Boss reserviert! Ein Kellner zum Beispiel trägt ein weißes Hemd. Der Hotelmanager betont, dass er als Chef „ganz Wiener“ ist.

Die Angestellten dürfen ihn duzen, Hektik ist nicht sein Ding. Berthold hat seiner Mutter in Sachen Festlegung der Ausbildungsrichtung längst verziehen. Heute ist er Ausbilder und versucht derzeit in Jessen, einer Köchin sowie einem Hotelfachmann den Schliff für das Berufsleben zu geben.

Den Anfang hat er sich leichter vorgestellt. Nach der Trennung vom alten Team Ende Mai sei es schwierig gewesen, geeignetes Fachpersonal zu finden. „Einen arbeitslosen Koch gibt es nicht. Entweder er ist faul oder schlecht“, so Berthold, der fast täglich in der Küche steht und zusammen mit drei Festangestellten den Laden schmeißt.

Die anfängliche Idee, die Lehrlinge im Hotel unterzubringen, ist vom Tisch. Der Chef findet diese Trennung wichtig. Denn Arbeit und Freizeit sind zwei Paar verschiedene Schuhe. Außerdem ist das Hotel zu 90 Prozent ausgelastet. Die Zimmer sollen den Gästen vorbehalten sein.

Die BVIK gGmbH ist in Jessen auf der Suche nach passendem Wohnraum. 2019 werden vier weitere Lehrlinge mit einer körperlichen Behinderung im Hotel ausgebildet und in der Wohngruppe von einem Sozialpädagogen betreut. „Es liegen schon mehrere Bewerbungen vor“, so der 50-Jährige, der die Anlage „Am Wald“ wieder zu einer festen Größe in Jessen machen will.

„Es ist mein drittes Objekt“, sagt er. Das Wiener Schnitzel steht derzeit nicht auf der Speisenkarte. Berthold setzt auf Abwechslung. Der Renner im Oktober sei das Luther-Schnitzel gewesen. (mz)