1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halle
  6. >
  7. Streit um Zuwanderer: Streit um Zuwanderer: Schwierige Annäherung im Stadtteil Halle-Silberhöhe

Streit um Zuwanderer Streit um Zuwanderer: Schwierige Annäherung im Stadtteil Halle-Silberhöhe

Von Alexander Schierholz 04.12.2014, 08:08
Die Silberhöhe im Winterdunst. Viele Bewohner der Plattenbausiedlung im Süden Halles fühlen sich abgehängt.
Die Silberhöhe im Winterdunst. Viele Bewohner der Plattenbausiedlung im Süden Halles fühlen sich abgehängt. Günter Bauer Lizenz

Halle (Saale) - Das ist also der Ort, an dem die Roma angeblich ihren Müll herumliegen lassen. An dem sie die Balkone ihrer deutschen Nachbarn ausspionieren, indem sie auf die Dächer ihrer Transporter klettern. So verbreiten es Rechtsextreme seit Wochen im Internet. Halle-Silberhöhe, Staßfurter Straße: Die fünfgeschossigen Wohnblöcke wirken hell und freundlich, die Vorgärten gepflegt. Kinder kommen aus der Schule, Handwerker machen Mittag in ihren Autos. An einer Straßenecke liegt ein zerlegtes Regal auf dem Rasen. Sonst keine Spur von Müll.

Die Staßfurter ist eine der Straßen in dem Plattenbauviertel im Süden Halles, in der seit dem Sommer 40 Roma-Familien leben. Keine Flüchtlinge, sondern EU-Bürger aus Rumänien. Sie waren noch nicht lange da, da gab es Proteste. Anwohner beschwerten sich über Müll und nächtlichen Lärm. Auf einer Facebook-Seite mit angeblich 700 Mitgliedern wurde rassistisch Stimmung gemacht gegen die Zuwanderer. Schmierereien tauchten auf, Hakenkreuze, Parolen wie „Zigeuner rauss“ - am Ende mit SS-Runen geschrieben. Ihren für Freitag geplanten Aufmarsch durch die Silberhöhe haben die Rechten zwar abgesagt. Aber das Klischee ist in der Welt: Osten. Platte. Nazis.

Ja zur Silberhöhe

Gudrun Haefke kann das nicht mehr hören. Ihre Silberhöhe ist eine andere: Kinder mit Eltern oder Großeltern, die in ihr Puppentheater kommen, das sie seit 2003 hier betreibt. Der Wissenschaftler oder die Ökonomin im Ruhestand, die Vorträge bei ihr besuchen. „Das ist ein Querschnitt, wie sie ihn auch in der Innenstadt finden.“ Nazis? Vor Jahren standen mal zwei im Foyer, mit Hund, als eine Veranstaltung schon fast vorbei war. Sie wollten wohl provozieren. Haefke hat sie höflich, aber bestimmt abtreten lassen. Seitdem ist Ruhe.

Gudrun Haefke, 66, hat damals bewusst ja gesagt zur Silberhöhe. Ihr Engagement am halleschen Puppentheater war beendet. Sie wollte hin zu ihrem Publikum, weg aus der Innenstadt, wo sich sowieso die ganze Kultur drängt. Als sie den Tipp bekam, es auf der Silberhöhe zu versuchen, war sie zunächst skeptisch. Dann hörte sie, dass es gerade dort wenige Angebote für Kinder und Jugendliche gebe. Und dachte sich: Jetzt erst recht.

Mehr als 40 Nationen

Roma sieht Gudrun Haefke höchstens mal, „wenn ich in die Kaufhalle gehe“. Im Sommer war das anders. Da lagerten die Familien auf den Rasenflächen vor den Häusern. Im Hof. Im Park. Schon das war offenbar anderen Einwohnern ein Dorn im Auge. Christian Kühne ist Geschäftsführer des Kinderschutzbundes, der auf der Silberhöhe ein Kinder- und Jugendhaus betreibt. Er erzählt von Roma-Kindern, die sich Kirschen vom Baum gepflückt hätten, zur Empörung der Nachbarn. „Es sind doch nur Kirschen“, sagt Kühne.

In Halle leben knapp fünf Prozent Ausländer, in der Silberhöhe ist es ein Prozent mehr. In den 2?150 Wohnungen der kommunalen Halleschen Wohnungsgesellschaft (HWG) leben Menschen aus mehr als 40 Nationen. Franzosen, Portugiesen, Nigerianer. Und nun eben auch 240 Rumänen, Männer, Frauen, Kinder. Sie sind nicht die einzigen. In Halle-Neustadt leben Roma aus Bulgarien. Warum hat sich der Protest gegen die Neubürger gerade auf der Silberhöhe entzündet? Warum gerade jetzt?

Mögliche Antworten auf diese Fragen erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Vielleicht weil die Empörung Ausdruck einer diffusen Angst gegenüber allem Fremdem ist. „Für manche ist es offenbar ungewohnt, wenn Menschen in Gruppen auf der Straße zusammenstehen und etwas lauter sind“, sagt Halles Sozialdezernent Tobias Kogge. Er vermisst eine „Willkommenskultur“.

Vielleicht aber auch, weil sich viele hier ohnehin als Verlierer fühlen. Der Anteil derjenigen, die Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld erhalten, ist überdurchschnittlich hoch: 41,9 Prozent der Einwohner leben in sogenannten Bedarfsgemeinschaften, in ganz Halle ist es jeder fünfte. Von den Kindern unter 15 erhalten fast 70 Prozent Transferleistungen vom Staat, mehr als doppelt so viele wie in der Stadt insgesamt.

Die Mieten sind vergleichsweise günstig, das zieht Menschen an, die sich teure Wohnungen nicht leisten können. Ute Haupt ist Linken-Stadträtin und Sprecherin des Forums Silberhöhe, in dem Händler, Vereine und Politiker das Image des Viertels aufpolieren wollen. Sie sagt: „Viele hier fühlen sich von der Stadt vergessen, schon weil das Gebiet weit weg vom Zentrum liegt.“ Im Gegensatz zum Plattenbaugebiet Halle-Neustadt, von der Altstadt nur durch die Saale getrennt. Es sind vermeintliche Kleinigkeiten, die Frust erzeugen: Seit Jahren gibt es nur noch zwei statt drei Straßenbahnlinien. Nun werde überlegt, eine weitere zu streichen, sagt Haupt: „Das bestärkt die Leute in ihrem Gefühl, ganz hinten zu stehen.“

Leute wie Peter Kaiser. In Jogginghose und dicker Jacke steht er vor seinem Hauseingang in der Hanoier Straße und zündet sich eine Zigarette an. Seit 27 Jahren lebt er auf der Silberhöhe und seitdem, sagt er, sei es „immer nur schlechter“ geworden. Mit der Kippe in der Hand weist er auf den Plattenbau hinter ihm, augenscheinlich unsaniert: „Die machen hier nichts.“

Neuerdings zählen auch einige Roma-Familien zu seinen Nachbarn. Und Peter Kaiser findet das gar nicht gut. „Die sollen verschwinden“, zischt er und schiebt ein nicht zitierbares Schimpfwort hinterher. Nachts machten sie Lärm, „oft geht das bis viertel drei und früh um sechs schon wieder weiter mit Türenschlagen und lautem Rufen“. Im Flur ließen sie ihre Kippen fallen.

Weniger Beschwerden

Die Wohnungsgesellschaft HWG verbucht solche Fälle unter Nachbarschaftsstreitigkeiten. Dass sich Mieter über ihre Nachbarn beschweren, wegen nächtlichen Lärms oder im Flur abgestellter Möbel, das gebe es auch zwischen Deutschen, sagt HWG-Sprecher Steffen Schier. Im Vergleich zum Sommer habe die Zahl der Beschwerden aber abgenommen - und schon damals waren es wenige. Eine eigene Statistik führt die HWG nicht. Schier räumt aber ein: „Die Situation ist neu für uns.“ Mit solchen Protesten gegen neue Mieter habe man nicht gerechnet, „das hat es bisher noch nicht gegeben“.

Roma? Dana Geuther winkt ab, während sie eine Tasse Cappuccino zubereitet. Sie bekommt sie ja kaum zu Gesicht. Stimmt schon, sagt die Frau, die sich vor drei Jahren mit einem Backshop selbstständig gemacht hat, anfangs habe es Ärger gegeben. Sie habe Jungs, die sie für Roma hielt, beim Klauen erwischt. „Die haben sich zwei Kaugummis aus der Vitrine genommen und beim Bezahlen gesagt, sie hätten nur einen.“ Seit vorn im Laden immer jemand aufpasst, ist Ruhe. Geuther , 40, wirkt zufrieden. Der Laden läuft, sagt sie. „Ich fühle mich wohl hier.“

Ob das für die Roma vor dem Supermarkt auch gilt? Eine stämmige Frau mit Kopftuch, ein Mann mit Kippe zwischen den Lippen, zwei halbwüchsige Jungs. „Sprechen Sie deutsch?“ - Kopfschütteln. „Englisch?“ - „Ein wenig“, sagt der ältere Sohn im grauen Kapuzenpulli und grinst verlegen durch eine Zahnlücke. Wie es ihnen geht in ihrer neuen Heimat? „Keine Probleme.“ Mehr will er nicht sagen. Seine Mutter drängt ihn weiter.

An dieser Sprachbarriere scheitert häufig nicht nur die Verständigung, sondern auch die Integration. Bei der Caritas bieten sie jetzt Kurse an für die Roma. Im Kinder- und Jugendhaus des Kinderschutzbundes haben sie den Angebotsplan und wichtige Begriffe wie „bitte“, „danke“ und „guten Tag“ ins Rumänische übersetzt. Es ist der Versuch einer Annäherung. „Ich hoffe“, sagt Sozialarbeiterin Nancy Wirth, „dass wir noch mehr zusammenwachsen.“ (mz)

Von den neuen Nachbarn bekommt Theaterchefin Gudrun Haefke kaum etwas mit.
Von den neuen Nachbarn bekommt Theaterchefin Gudrun Haefke kaum etwas mit.
Stedtler Lizenz