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Schattenseiten der Pandemie Schattenseiten der Pandemie: So erleben Obdachlose und eine Pfarrerin die Krise

Von Dirk Skrzypczak 08.12.2020, 09:12
Mit Christbaumkugeln: Der Eiermann hat umdekoriert. 
Mit Christbaumkugeln: Der Eiermann hat umdekoriert.  Silvio Kison

Halle (Saale) - Der „Eiermann“ macht in der Leipziger Straße Platz für einen Streifenwagen der Polizei. Langsam geht der Aktionskünstler, der bürgerlich Gregory da Silva heißt und aus Kapstadt in Südafrika stammt, zur Seite. Drei Meter ist sein Kopfschmuck hoch. Und passend zur Adventszeit hat der 41-Jährige den Mast mit der Giraffe als Spitze mit Christbaumkugeln behängt. „Zwei bis drei Stunden halte ich durch, dann brauche ich eine Pause“, sagt er.

Schattenseiten der Pandemie - Abgesagte Events durch Corona

Voll ist es an diesem Samstag, dem zweiten Adventswochenende, auf Halles Boulevard. Ganze Familien sind shoppen, hasten mit prall gefüllten Beuteln und Taschen durch den kalten Nachmittag. Da Silva singt seine Strophe wie in einer Endlosschleife: „Ich bin der Eiermann, bleibt gesund.“

Einige Passanten bleiben stehen, zücken die Handys für ein Foto. Hin und wieder klimpern auch Münzen in ein Gefäß, dass der Eiermann mit sich trägt. „Durch Corona sind meine Events abgesagt worden. Jetzt muss auch ich sehen, wie ich über die Runden komme“, sagt er.

Obdachlose hoffen auf Gaben in der Fußgängerzone

Vor H&M liegen Obdachlose auf den eisigen Gehwegplatten, eingemummelt in mehrere Decken. „Frohes Fest“ haben sie auf Pappe geschrieben und aufgestellt - in der Hoffnung, dass der eine oder andere Hallenser sich gnädig zeigt und ein bisschen Kleingeld springen lässt.

Christopher hat drei Becher vor sich. „Einer ist für Tabak, einer für Drogen, einer für Essen“, erzählt der junge Mann. Seit Monaten lebt er wieder auf der Straße. „Als Kind bin ich misshandelt worden. Danach lief mein Leben aus dem Ruder“, sagt er. 

Corona ist verheerend für Menschen, die von anderen abhängig sind

Er nahm Drogen, erst die leichten, dann die schweren Kaliber. Zwischenzeitlich saß er im Gefängnis. Nun schlägt er sich wieder mit Betteln durch, und auch die Drogen sind wieder sein Begleiter. Für Menschen, die von der Großzügigkeit anderer anhängig sind, ist Corona verheerend. „Wenn weniger Menschen unterwegs sind, dann gibt es auch weniger Geld. Aber heute geht es“, sagt der 26-Jährige und bedankt sich bei Leuten, die Centstücke in die Becher stecken.

Auf dem Markt, in der Vorweihnachtszeit eigentlich der Dreh- und Angelpunkt, vollgestopft mit Tausenden Besuchern, herrscht eher gähnende Leere. Die Strategie der Stadt zeigt Wirkung. Um die Infektionsgefahr zu senken, sollen sich Personen nicht in größeren Gruppen zusammenfinden. Das funktioniert, das Weihnachtsplätzchen zieht kaum Menschen an.

Ärger über Ungleichbehandlung der Händler

Zlatan Kramer steht mit seiner Kerzenbude östlich der Straßenbahngleise. „Seit 27 Jahren kommen wir mit unserem Stand nach Halle. So traurig war es noch nie“, sagt der gebürtige Ungar. Und er ärgert sich über die Ungleichbehandlung der Händler.

„Im Supermarkt oder den Kaufhäusern stehen die Kunden in Schlangen an den Kassen. Aber an der frischen Luft müssen Händler weichen“, sagt er. Seit Donnerstag ist ein Großteil der Imbissstände auf dem Hallmarkt - Samstagnachmittag haben dort bis auf den Asia-Imbiss alle anderen zu.

Corona und Kirche: Sieben Andachten im 45-Minuten-Rhythmus in der Marktkirche

In der Marktkirche spricht Pfarrerin Simone Carstens-Kant auf einer Trauerfeier. Die Hinterbliebenen müssen Masken tragen. Maximal 160 Personen dürfen in das Wahrzeichen der Stadt, auch zu den Gottesdiensten. „Im Gegensatz zum Frühjahr sind wir froh, dass wir noch Gottesdienste feiern dürfen“, sagt die Pfarrerin. 120 bis 150 Besucher seien es jetzt pro Gottesdienst in der Adventszeit - nicht mehr oder weniger als sonst. 

Für den Heiligen Abend hat die Gemeinde ein Konzept entwickelt. Sieben Andachten soll es im 45-Minuten-Rhythmus in der Marktkirche geben. Kerzen vor dem Gotteshause sollen den Wartenden helfen, den Mindestabstand einzuhalten.
Unterdessen hofft der Einzelhandel auf ein Umsatzplus in der Adventszeit. „Die meisten Geschäfte haben über das Jahr Einbußen von 30 bis 40 Prozent.

Weniger Einnahmen durch abgesagten Weihnachtsmarkt und geschlossene Gaststätten

Unsere große Hoffnung liegt darin, dass die Leute noch Geschenke brauchen und nicht schon alles im Internet bestellt haben“, sagt Wolfgang Fleischer von der City-Gemeinschaft. Der Zusammenschluss von Händlern und Gastronomen ärgert sich, dass die Geschäfte nicht wie in Harzgerode oder Quedlinburg an den Adventswochenenden auch sonntags öffnen dürfen. „In Halle hat sich die Stadt erst gar nicht mit der Gewerkschaft Verdi angelegt“, sagt Fleischer.

Zahlen zur Höhe des Besuchereinbruchs in der Altstadt gibt es nicht. Die Stadt verzeichnete von Januar bis November aber über 300.000 Euro weniger Einnahmen bei den Parkgebühren im Vergleich zu 2019. Ohne Weihnachtsmarkt und geöffnete Gaststätten sowie Theater dürfte das Minus weiter steigen. (mz)