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Nicht auf SED-Linie Nicht auf SED-Linie: Insgesamt 2.000 Jahre Zuchthaus für Uni-Mitarbeiter in Halle zu DDR-Zeiten

Von Christian Eger 19.06.2019, 11:20
Rektor Christian Tietje: Erinnerung an die Verfolgten und an jene, die sich für sie eingesetzt haben.
Rektor Christian Tietje: Erinnerung an die Verfolgten und an jene, die sich für sie eingesetzt haben. Silvio Kison

Halle (Saale) - Das Jahr 1958 war ein Schlüsseljahr in der mehr als 250-jährigen politischen Geschichte der Universität Halle. Es war das Jahr, in dem die Hochschule den Studenten und Lehrern, die nicht umstandslos auf SED-Linie zu bringen waren, die Instrumente zeigte. Ihren Höhepunkt fand die Aktion in der inneruniversitären Zerschlagung des „Spirituskreises“, einer seit 1890 fortbestehenden informellen Vereinigung von zwölf Professoren, die sich einmal im Monat zu einem fachlich-geselligen Treffen zusammenfanden.

Eine Vereinigung, die ihren Namen keiner Feuerzangenbowle, sondern dem lateinischen Wort für „Geist“ verdankte. Weil der unter dem Rektorat des Kommunisten Leo Stern von scharf links wehte, wurde der Zirkel vom Senat verboten. Ein Teil der Professoren ging in den Westen, ein anderer passte sich an. Der Geologe Hans Gallwitz starb im Zuge der Repressionen. Der Schlag gegen den Kreis galt allen Universitäts-Mitarbeitern.

Professoren und Studenten der Uni Halle bei Proteste vom 17. Juni

Der Spirituskreis stand im Mittelpunkt der am Montagabend in der Universitätsaula veranstalteten Feier, die der von politischer Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR betroffenen Angehörigen der Universität gedachte. Die vom Rektorat gegründete Kommission zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts setzte damit abermals ein Zeichen. Nachdem im Jahr 2013 an die von 1933 bis 1945 ausgeschlossenen Universitäts-Angehörigen erinnert worden war, ging es jetzt in die DDR hinein - noch mit einer Fokussierung auf die Jahre vor 1961.

Eröffnet vom Rektor Christian Tietje und mit einem Grußwort von Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) eingeleitet, hielt der Kirchenhistoriker Friedemann Stengel den Gedenkvortrag. Zum Auftakt erinnerte der Theologe an die Proteste vom 17. Juni vor 66 Jahren in Halle, in deren Verlauf sich 60.000 Menschen auf dem Hallmarkt versammelt hatten, darunter auch Professoren und Studenten. Gunnar Schmidt, ein Doktorand der Agrarwissenschaften, wurde von einer Kugel tödlich getroffen.

Insgesamt 2.000 Jahre Zuchthaus für 168 Uni-Angehörige

Fünf Agrarstudenten wurden verhaftet und mit Zuchthaus bis zu drei Jahren bestraft. Zwischen 1946 und 1961 waren 168 Uni-Angehörige zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Nach Berlin hatte Halle die höchste Zahl an Verhaftungen aufzuweisen. Alles in allem kommt man, teilt Stengel mit, auf 2.000 Jahre Zuchthaus.

Um 300 Prozent stieg 1958 die Fluchtwelle von Universitätsangehörigen in den Westen. Der Chemiker Jürgen Runge, 1953 Vertrauensstudent in der Evangelischen Studentengemeinde Halle, blieb im Osten.

Was 1958 an der Universität geschah, zeigte der von dem Medienwissenschaftler Gerhard Lampe verantwortete Film „Die Zerschlagung des ,Spirituskreises’“, der zum Ende der Feier im Audimax gezeigt wurde - ein dokumentarisches Kammerspiel von 196 Minuten Länge. Nicht die einzige mediale Gedenk-Offerte: 168 Opfer-Biografien sind online über einen QR-Code abzurufen, der an einer smaragdgrünen, von Joachim Dimanski gestalteten Stele ablesbar ist, die nahe am Robertinum aufgestellt wurde.

Kopf, Emotion, Sozialsinn

Zur Enthüllung der Stele sprach Altbundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Der Auftritt der Christdemokratin, die dem Kuratorium der Universität angehört, war ein Höhepunkt des Abends. Die Politikerin im weißgrünen Sommerkleid, der man ihre 82 Jahre nicht ansieht, sprach spontan und zugewandt. Bereits mit ihren ersten Worten traf sie die Situation. Süssmuth lobte die Universität dafür, dass sie „heute etwas tut, was sie vielleicht schon längst hätte tun können“.

In der Tat und bei aller Festlichkeit: Erst 30 Jahre nach der DDR wird an der ostdeutschen Universität Halle der Verfolgten in - und von! - den eigenen Reihen gedacht. 30 Jahre danach! Eine Engführung von Opposition und Hochschule ist im Fall der 50er Jahre zulässig, im Blick auf die komplette DDR aber wäre sie irreführend. Die Universität war kein Hort der Opposition. Hier von der Sondersituation der Theologie aufs Ganze zu schließen, würde den Befund verzerren.

Das Jahr 1989 mit seinen Protesten ging nicht von der Universität, fast durchweg nicht von den Professoren aus. Insofern ist der letzte Teilsatz der Steleninschrift wichtig: „Zum Gedenken an die Mitglieder der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR aus politischen Gründen verfolgt wurden, und die, die sich für politisch Verfolgte eingesetzt haben.“

Rita Süssmuth sprach mit erstaunlicher Empathie. Sie nannte den Osten den Teil Deutschlands, der „völlig verkannt“ sei „in seiner Vielschichtigkeit, seinem Können, seinen Leistungen“. Was die Menschen zeigten, die an dieser Uni widerstanden? Kopf, Emotion, Sozialsinn, das was zusammengehöre, sagte Süssmuth.

Vielleicht ist dieser Dreiklang die entscheidende „universitas“. (mz)

In einer früheren Fassung des Textes wurde behauptet, dass die Familie des Geologen und „Spirituskreis“-Mitgliedes Hans Gallwitz nach dessen Tod 1958 die DDR verlassen habe. Das ist falsch, teilt dessen in Steinen (Baden-Württemberg) lebende Tochter Ingeline Nielsen mit. Ihre Mutter habe erst 1963 die DDR verlassen, um vier ihrer fünf Kinder näher zu sein. Im Artikel wurde Ingeline, geborene Gallwitz, fälschlich Irene genannt.