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Weil er "Westliteratur" las DDR-Unrecht?: Student aus Halle saß im Gefängnis - weil er Westliteratur las

Von Anja Falgowski 14.11.2018, 07:01
Das Foto zeigt Heinrich Blobner im Jahr 1957.
Das Foto zeigt Heinrich Blobner im Jahr 1957. Leserfoto

Halle (Saale) - Wegen „Boykotthetze“ inhaftiert, aber als „Staatsverräter“ verurteilt - handelt es sich um einen Fall von Rechtsbeugung? Heinrich Blobner und sein Freund Arno Seifert waren 1958, vermutlich als erste DDR-Bürger überhaupt, nach einem neu eingeführten Gesetz zusieben Jahren Haft verurteilt worden. Als „Staatsverräter“. Was war passiert?

Verurteilt als „Staatsverräter“: Politik-Student brachte „Westliteratur“ in die DDR

Blobner, der Mitte der 50er Jahre an der halleschen Universität Geschichte und Geographie studierte, nutzte damals die Chance, von seinen einmal im Jahr stattfindenden Reisen in den Westen Deutschlands Literatur und aktuelle Zeitschriften mitzubringen. Eine Karl-Marx-Biographie war darunter, Wolfgang Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, der „Spiegel“, die „FAZ“.

Die Niederschlagung des Aufstandes in der DDR 1953 und der Reformbestrebungen in Ungarn 1956 sowie die einsetzenden Stalin-Kritik sorgten auch unter – wenngleich unter wenigen - halleschen Studenten für Diskussionen. In einem Gesprächskreis fanden sich Blobner, Seifert und einige andere regelmäßig zusammen, um über politische und weltanschauliche Fragen zu sprechen.

Verurteilt zu sieben Jahren Zuchthaus - aufgrund eines neu geschaffenen Paragrafen

Lange ging das nicht gut, die Stasi bekam schnell Wind von der Runde. „Sechs, sieben Personen von uns setzten sie zu“, erinnert sich Heinrich Blobner. Die verbotene Literatur wurde gefunden, „Hetzschriften“ also, das MfS ermittelte wegen „Boykotthetze“. Schließlich wurde der Prozess gegen die Studenten Blobner und Seifert eröffnet.

Vor etwa 50 zugelassenen Zuschauern, erinnert sich Heinrich Blobner. Staatsanwaltschaft und der Parteisekretär der MLU seien bei der Urteilsfindung mit einbezogen gewesen, sagt er. Verurteilt wurden die Studenten zu sieben Jahren Haft - auf der Grundlage eines neu geschaffenen Paragrafen, der rückwirkend an die Stelle des „Boykotthetze“-Vorwurfes den des Staatsverrates stellte.

Hatte DDR-Justiz hier Recht gebeugt? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten

Die Anwälte hätten zwar, sagt Heinrich Blobner, gegen die Anklage argumentiert, sogar Berufung eingelegt, aber ergebnislos: „Wir konnten froh sein, dass es nur sieben Jahre waren!“ Der Historiker André Gursky, Mitarbeiter der Gedenkstätte „Roter Ochse“, bewertet den Vorgang so: „Das Urteil war quasi ein Grundsatzurteil, eine Art Pilotprojekt für den Umgang mit späteren möglichen Widersachern der Parteinomenklatur, die über die ideologische Reinheit und Geschlossenheit der SED, aber auch über den neuen sozialistischen Menschen zu befinden hatte.“

Rechtsbeugung also? Heinrich Blobner selbst kann die Frage nicht beantworten, der Historiker Gursky auch nicht: „Es gibt hierzu meist unterschiedliche und nicht so sehr einfache Sichtweisen. Selbst unter Juristen, die im Nachgang, also nach 1990, hierüber zu befinden hatten, und zwar in Rehabilitierungsfragen.“

Gedenkstätte „Roter Ochse“ diskutiert die spannende Rechtsfrage 

Die Gedenkstätte „Roter Ochse“ lädt nun zu einer Veranstaltung ein, auf der über das Urteil gegen Heinrich Blobner gesprochen werden soll; eingeladen sind neben Heinrich Blobner namhafte Juristen, unter anderem einer der Hauptankläger in den SED-Politbüro-Prozessen nach 1989, der ehemalige Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz.

Heinrich Blobner und Arno Seifert saßen ihre Haftstrafe übrigens fast komplett ab. Als die DDR-Führung 1962 eine Amnestie erließ, durften die beiden trotzdem nicht raus. „Unsere Umerziehung war noch nicht gegeben, hieß es damals“, so Blobner. Er wurde schließlich vom Westen freigekauft - nach sechs Jahren Haft brachte ihn der DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel zum Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, zum Zug in Richtung Westen.

Die Podiumsdiskussion mit dem Titel „Wegen Boykotthetze inhaftiert - verurteilt als Staatsverräter. Ein Fall von Rechtsbeugung 1957/58?“ findet am kommenden Mittwoch 14. November, 18 Uhr, in der Gedenkstätte „Roter Ochse“ in Halle statt. Der Eintritt ist frei. (mz)