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Ludwig Ehrler Ludwig Ehrler: Von den Vorzügen eines warmen Komposthaufens

19.06.2012, 19:05

Halle (Saale)/MZ. - Ein Lieblingsort in Halle? Ganz klar, der Kaffeeschuppen, sagt Ludwig Ehrler. Tatsächlich: Wer den ehemaligen Burg-Rektor und Stadtrat treffen möchte, der muss sich einfach nur in die Kneipe in der Kleinen Ulrichstraße setzen und warten. Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte sich MZ-Redakteur Peter Godazgar trotzdem richtig verabredet mit Ludwig Ehrler.

Was verbindet Sie mit dem "Kaffeeschuppen"?

Ehrler: Ich bin oft hier. Das liegt auch an meiner Berufsgeschichte. Ich kam auf dem Weg von der Burg in die Stadt immer hier vorbei. Es ist ein guter Ort, um zu entspannen und Freunde zu treffen.

Der Kaffeeschuppen ist quasi die Keimzelle der Kleinen Ulrichstraße.

Ehrler: Das stimmt. Und es gibt meines Erachtens keine bessere Kneipe. Auch wenn sie mal einen Monat geschlossen war: Danach waren alle Gäste sofort wieder da.

Der Kaffeeschuppen als eine Art Parallel-Wohnzimmer?

Ehrler: Ja. Das Schöne an einer guten Kneipe ist ja, dass man eine Öffentlichkeit hat, die einen nicht bedrängt, aber schützt. Das hat so etwas unverbindlich Verbindliches. Oder umgekehrt.

Sie kamen als 19-Jähriger nach Halle, um Malerei zu studieren.

Ehrler: Kunst war für mich vor allem das Medium, durch das ich zu meinem Vater eine gute Beziehung halten konnte. Mein Vater hatte selbst eine künstlerische Neigung, die Sehnsucht Künstler zu sein. Das habe ich von ihm übernommen. Ich sehe mich selbst im Grunde aber nicht als Künstlernatur.

Wie bitte?

Ehrler: Ich sage das ohne Koketterie. Kunst war für mich immer eine Schinderei. Ich habe das Messen eher gelernt als den Ausdruck meiner Weltsicht und Gefühle.

Sich schinden zu müssen, ist doch kein Beleg dafür, dass man keine Künstlernatur ist.

Ehrler: Aber ein bisschen Genie ist schon nicht schlecht. Wenn einer was kann, kann er seine Zeit reich füllen, ist produktiv. Das war für mich immer unverhältnismäßig schwer. Viel Mühe um wenig.

Was wäre Ihnen denn lieber gewesen?

Ehrler: Vielleicht hätte ich Ingenieur werden sollen.

Dann war das Kunststudium eine reine …, ja, was eigentlich? Eine Vernunftentscheidung?

Ehrler: Es war auch ein Ausweg. Ich bin DDR-kritisch aufgewachsen. Da habe ich für mein Leben einen beruflichen Raum gesucht - so weit weg vom Staat wie möglich. Das war für viele so: Man studierte Kunst, Musik, Theologie, Medizin oder arbeitete im sozialen Bereich. Oder man haute ab in den Westen.

Fanden Sie die Stadt schön?

Ehrler: Wenn man damals auf dem Hauptbahnhof ankam, bot Halle keinen schönen Anblick. Ich glaube, das war mir aber damals egal. Ich wollte studieren, ich war in Aktion. Außerdem hat der Mensch diesen Selektionsblick: Was er nicht sehen will, das sieht er auch nicht. Deshalb sind zum Beispiel Filme wie die Hall-Rolle so wichtig: Damit man sich erinnert, was für ein Chaos das damals war.

Aber Sie werden den zunehmenden Verfall doch wahrgenommen haben.

Ehrler: Klar. Und es hat natürlich furchtbar geschmerzt. Der Abriss in der Geiststraße zum Beispiel. Diese anmaßende ideologische Verachtung alles Historischen, von dem dieser Staat doch bis zuletzt gelebt hat. Der Bau der Hochstraße - das war ein Reinscheißen in eine städtische Kostbarkeit! Da denke ich oft drüber nach: Was ist eine Stadt ohne die körperliche Gegenwart ihrer Geschichte, ohne die dadurch erzeugte Wärme? Wenn wir keine Geschichte hätten, wenn das alles wegfiele - was wäre das für eine haltlose Existenz!

Sie haben mal sehr treffend gesagt, Halle duckt sich als Stadt oft weg.

Ehrler: Da gibt es viele Beispiele. Wenn ich mir den Dom ansehe - keine Türme, der Eingang über einen Hof oder wie bei der Marktkirche durch kleine Seitentüren oder von hinten: Anderswo führen große Eingangsportale vom Vorplatz direkt in Kirchen, wie bei Notre Dame in Paris. Auch das Geistes- und Sozialwissenschaftliche Zentrum der Uni kommt eben nicht an die Spitze, wo es die hallesche Innenstadt quasi zum Campus gemacht hätte. Stattdessen drückt es sich wieder in eine abseitige Ecke, da oben hinterm Steintor-Varieté.

Kann man ja durchaus positiv auslegen: als Bescheidenheit.

Ehrler: Es ist aber auch ein genaues Abbild halleschen Selbstbewusstseins: Nie offen und frei, immer etwas verbogen, seitlich weggeduckt, hintenherum. Jedenfalls führt es dazu, dass Halle sich einem nicht auf den ersten Blick offenbart. Das ist eine Stadt, die man erst mit der Zeit erlebt und lieben lernt.

Was Sie inzwischen tun?

Ehrler: Ja, Halle verbindet das relativ Großstädtische mit dem Kleinstädtischen. Alles ist gut zu erreichen. Was an kulturellen Einrichtungen nicht direkt im Zentrum ist, ist schon zu weit weg. Man trifft sich oft, weil Halle eigentlich ein Straßendorf ist. Es gibt im Prinzip nur einen Kiez: Die Stadt selber. Das hat eine hohe Lebensqualität.

Im Rückblick: Wie sehen Sie Ihre Zeit als Stadtrat?

Ehrler: Na ja, dazu bin ich eher überredet worden. Was ich schnell gemerkt habe: Man geht da hin, um etwas zu verändern. Aber die Hürden sind ungeheuer hoch, die Zeit vergeht, aber alles läuft ewig, immer gibt es Verhinderungen und Rückschläge auch durch Profilierungssucht und mangelnde Kompetenz. Wo soll die auch herkommen im Ehrenamt? Die Parteien sind sich zu uneins und kommunizieren zu wenig, weil sie sich erst mal selbst suchen und Identität finden wollen. Das ist verständlich und furchtbar. Der Ideenmangel ist nicht mal das Problem, die Durchsetzung ist so unendlich schwierig. Nach fünf Jahren war es für mich dann auch genug. Aber es ist eine Arbeit, die getan werden muss. Und ich bewundere die Durchhalter, die sich eine gewisse Naivität bewahren konnten und Zeit und Mühe aufbringen, die Stadt, den Apparat und deren Probleme zu erlernen. Und die spüren und hören, was nottut.

Und Halles Zukunft? Wie sehen Sie die?

Ehrler: Ich weiß nicht, was kommt. Eigentlich weiß das doch niemand. Viele reden klug, aber was wissen wir denn wirklich? Jedenfalls sollte die Stadt Selbstvertrauen gewinnen und nicht immer Leipzig nachlaufen. Wenn Bürokratie und Angst vor Verantwortungsübernahme die notwendige Entschlusskraft weiter behindern, wird es schwer. Der Boden ist gut: Halle vereint vieles: Proletarisches und Bürgerliches, Wissenschaft und Kunst, Bildung, Forschung, Handwerk, Kultur und Kommerz, Industrie und auch Landwirtschaft, Stein und Grün, schöne Landschaft und die herrliche Saale. Das ist alles ganz dicht beieinander, ein tolles Gemenge. Das ist ein warmer, fruchtbarer Komposthaufen. Das ist was sehr, sehr Schönes. Und darauf muss doch und wird doch was Gutes wachsen! Wenn es die Hallenser und die Zeiten zulassen.