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Leichtathletik Leichtathletik: Der Kronprinz der Athleten

Von CHRISTIAN ELSAESSER 15.08.2011, 20:19

Halle (Saale)/MZ. - Rico Freimuth mag Zahlen. Vielleicht muss er sie mögen als Zehnkämpfer. Immerhin werden seine Ergebnisse in einem Wettkampf nach einem Schlüssel in Punkte umgerechnet. Jedenfalls kennt der Mann jede seiner persönlichen Bestleistungen aus dem Stegreif. Freimuth zückt sein Smartphone, startet ein Programm und braucht keine 30 Sekunden, um aus dem Kopf eben jene zehn Werte einzutippen. Am Ende errechnet die Software, neudeutsch: die App, die Punktzahl, die Freimuth theoretisch in einem Zehnkampf erreicht hätte: 8 484.

In der Realität ist der 21-jährige Hallenser von dieser Marke noch ein Stück weit entfernt. Sein tatsächlicher Rekord liegt bei 8 287 Punkten. Doch damit hat er im Juli in Ratingen die Norm für die Leichtathletik-WM geknackt. Seitdem ist klar: Rico Freimuth ist einer von drei Zehnkämpfern, die ab kommender Woche im südkoreanischen Daegu für Deutschland antreten werden.

Der Kreis schließt sich

Fast könnte man meinen, die Sportgeschichte habe für die Familie Freimuth eine Art Kreis vorgesehen, der sich nun schließt: Ausgerechnet in Südkorea betritt Rico Freimuth die internationale Bühne. In dem Land, in dem sein Vater Uwe 1988 bei Olympia seine Karriere als Zehnkämpfer beendet hatte. "Aber", sagt Rico Freimuth, "die Geschichte geht ja noch weiter. Es gab genau zwei Junioren-Europameisterschafen, die in den Niederlanden stattgefunden haben. 1982 und 2007. 2007 habe ich eine Medaille gewonnen, 1982 meine Mutter im Siebenkampf." Anke Tröger, so hieß seine Mutter damals, war seinerzeit sogar Junioren-Weltrekordlerin.

In Daegu tritt also die zweite Generation Freimuth an. Und obwohl Rico eine brillante Saison hinter sich hat und seine Bestleistung um 461 Punkte verbessert hat, geht er das WM-Debüt defensiv an. "Ich würde nie sagen: ,Ich will eine Medaille gewinnen.' Oder: ,Ich will so viele Punkte wie mein Vater erreichen'", sagt Freimuth. Wenn er gesund bleibe, sei er überzeugt, dass er seine Bestleistung noch deutlich nach oben schraube.

Vielleicht ist diese Einstellung das cleverste, was Rico Freimuth machen kann. Denn ein Sportler mit seiner Familiengeschichte hat eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Er ignoriert die Bedeutung seines Namens oder er akzeptiert sie und sucht seinen eigenen Weg. Wobei für Rico Freimuth nur Option zwei blieb. Denn aus jedem Satz, den er über seinen Vater spricht, wird klar, wie außergewöhnlich gut das Verhältnis der beiden ist.

Boykott-Opfer 1984

Natürlich ist der Name Uwe Freimuth eine Form von Belastung für Ricos Karriere. Sein Vater ist bis heute mit 8 792 Punkten der zweitbeste deutsche Zehnkämpfer aller Zeiten. "Und der Achtbeste in der Welt", fügt Rico Freimuth an. Erreicht hatte er diesen Wert kurz vor Olympia 1984. Damit gehört Uwe Freimuth zur Gruppe jener Sportler, denen durch den Olympia-Boykott der DDR der Höhepunkt ihrer Karriere gestohlen wurde. 1988 war er über seinen Zenit hinaus.

Das ist lange her. Uwe Freimuth lebt heute in Vietnam. Er arbeitet dort für den nationalen Leichtathletik-Verband als Sportdirektor. Und trotz der großen Distanz ist er der wichtigste Ratgeber für seinen Sohn. "Ich rufe ihn immer an, wenn im Training mal etwas nicht so läuft." Und das passiert oft. Rico Freimuth grübelt viel über sich. Und dann hilft der Vater. "Ich weiß ja, dass er das auch alles schon einmal durchgemacht hat." Also glühen die Drähte. "Wir telefonieren manchmal drei, vier oder fünf Mal pro Woche."

Uwe Freimuth verfolgt aus der Distanz die Karriere seines Sohnes. Und wer ihn über Rico sprechen hört, bekommt einen Eindruck, warum der Draht zwischen den beiden so eng ist. Weil Rico und sein Zwillingsbruder Hanno, ein ehemaliger Junioren-Nationalspieler im Basketball, auf dem Fußballplatz eher klägliche Figuren abgaben, meinte Vater Uwe einst: "Die bewegten sich am Ball wie zwei Störche im Salatbeet." Über seinen zehnkämpfenden Sohn sagte er jüngst: "Rico muss kräftemäßig noch zulegen. Von der Statur her sieht er ja noch aus wie ein Tapetennagel." Und als der Sohn über 100 Meter die Bestleistung seines Vaters deutlich unterbot, meinte der nur schelmisch: "Wie kannst du denn so schnell laufen mit deinen dünnen Beinen?"

Man muss das als eine Art liebevolles Necken verstehen. So kann man nur über jemanden sprechen, den man gut kennt, dessen Emotionen man einschätzen kann. "Ja, ja, die Nummer mit dem Tapetennagel", sagt Rico Freimuth, als habe er sie schon hundert Mal gehört. "Mein Vater ist wirklich der absolute Wahnsinn." Seine Augen verraten: Er sagt das nicht einfach so, er meint das auch.

Geborener Prachtkerl

Die lockere Art hat der Sohn von seinem Vater auf jeden Fall geerbt. Auf seinem Facebook-Profil hat er den Namen eingetragen: "Rico Freimuth, geb. Prachtkerl". Wenn man ihn nicht kennt, könnte man das als arrogante Attitüde auslegen. Gemeint ist es genau anders. "Das soll nur zeigen, dass ich mich selbst nicht so ernst nehme. Es ist witzig gemeint", sagt er. Genauso wie die Sprüche seines Vaters.

In Daegu wird Rico Freimuth seinen ersten großen internationalen Auftritt haben. Er sieht das selbst nur als den Anfang. Und auch wenn er öffentlich nur ungern über Karriere-Ziele sprechen mag: Irgendwann einen großen Titel zu gewinnen, das treibt ihn an. "Man sagt doch, Zehnkämpfer sind die Könige der Athleten", sagt Rico Freimuth. "Das gefällt mir: König der Athleten."

Experten bescheinigen ihm riesiges Talent. Doch der Weg auf den Thron ist noch weit. Eine Medaille in Daegu ist nicht realistisch. "Die Amerikaner spielen noch in einer anderen Liga als ich", sagt Freimuth. Deshalb will er bei der WM lernen. Schließlich hat jeder König mal als Kronprinz angefangen.