Halle Halle: Narben, die keiner sieht
Halle (Saale)/MZ. - John kann bis heute nicht darüber sprechen. Zu tief sitzt der seelische Schmerz. Mit Verbrennungen dritten Grades wurde der Junge im Frühjahr per Rettungshubschrauber ins Uniklinikum Halle eingeflogen.
"Er schwebte zwischen Leben und Tod", sagt Prof. Rainer Finke, Leiter der Klinik für Kinderchirurgie, der am Dienstag mit seinen Kollegen erstmals zum "Tag des brandverletzten Kindes" eingeladen hatte. Initiiert vom Verein Paulinchen, wolle man die Öffentlichkeit auf die Folgen von Brandverletzungen bei Kindern hinweisen, die nicht nur aus Sicht der medizinischen Wundbehandlung problematisch sind.
Es ist der 17. April dieses Jahres. "Ich bekomme die Bilder nicht mehr aus meinen Kopf", erzählt Johns Mutter, die seitdem krankgeschrieben ist. Mit ihrem Mann Gregor fährt sie an jenem Tag nach der Arbeit ins Pflegeheim zu den Großeltern. "John blieb daheim", so die 31-Jährige. Nur zwanzig Minuten später klingelt ihr Telefon. "Meine Nachbarin war dran, schrie nur: Es brennt, es brennt durch den Hörer. Sirenen waren zu hören", erinnert sich die Merseburgerin, die ihre Großeltern stehen lässt, losrennt und wie um ihr Leben läuft. Das Heim ist zwar nur 300 Meter entfernt. Doch als die Mutter eintrifft, haben sich schon die dramatischsten Szenen abgespielt. Jacqueline Vogel, die Tochter der Nachbarin, hat als erste den Wohnungsbrand bemerkt. Sie reagiert geistesgegenwärtig als sie John in brennenden Klamotten aus dem Heim über die Terrasse rennen sieht. "Schmeiß Dich hin, wälze Dich auf dem Boden", schreit sie immer wieder, bis der Junge das Feuer erstickt hat. Dann raffen sich die Bilder im Gedächtnis der Mutter: Sanitäter, Ärzte, Feuerwehr und Polizei sind vor Ort. John wird mit dem Hubschrauber weggeflogen. Rambow-Handt kann aber nicht mit. "Ganze vier Stunden habe ich bei der Polizei wegen meiner Aussage verbracht", ist sie sauer. "Ich wusste weder, wo mein Sohn liegt, noch wie es ihm geht." Bis heute sei zudem ungeklärt, wie es zum Brand kam, sagt die 31-Jährige.
In der Uniklinik kämpft man um das Leben des Jungen. "55 Prozent der Haut waren verbrannt", sagt Prof. Rainer Finke. Neben dem Rücken, dem Bauch, dem rechten Arm und Brustkorb sind die Beine betroffen. Im Brandverletztenzentrum kümmern sich auch die Oberärzte Sven Höhne und Ulla Lieser um den Patienten, der im Koma liegt und künstlich ernährt wird.
Alle zwei Tage werden Verbände gewechselt, verletzte Haut abgetrennt und neue aufgebaut. "Über 30 Mal haben wir operiert", zieht Höhne Bilanz. Die medizinische Kunst habe darin bestanden, Infektionen zu vermeiden. Nach fünf Monaten Behandlung ist es soweit - ausgerechnet zum Geburtstag der Mutter. "John stand vom Rollstuhl auf und lief mir zehn Schritte entgegen. Es war das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe", ist sie den Tränen nah.
Nach einem Aufenthalt in einer Reha-Klinik ist John gut bei Kräften und besucht zeitweise schon die sechste Klasse in der Merseburger Albrecht-Dürer-Sekundarschule. Er habe die Geschichte besser verkraftet, als sie je zu hoffen gewagt habe, sagt die Mutter. Doch sie merke auch, wie sehr John seine Narben verstecke. "An Seele und Haut ist er lebenslang gekennzeichnet", sagt Finke. Es gehe jetzt darum, dass sich seine Psyche stabilisiert. Die Narben, die keiner sieht, sind das Problem. Ein langer Weg liegt deshalb noch vor John.