1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halle
  6. >
  7. Germanist Jürgen Krätzer: Germanist Jürgen Krätzer: "Die Poesie war nie tot!"

Germanist Jürgen Krätzer Germanist Jürgen Krätzer: "Die Poesie war nie tot!"

Von Detlef Färber 31.10.2016, 07:00
Leipziger mit hallescher Wirkungsstätte: Jürgen Krätzer auf dem neuen Campus der Geisteswissenschaften.
Leipziger mit hallescher Wirkungsstätte: Jürgen Krätzer auf dem neuen Campus der Geisteswissenschaften. Lutz Winkler

Halle (Saale) - Vor Wochen hat er sich mal wieder eingemischt. Ein kraftvoller Meinungstext in Deutschlands bekanntester Wochenzeitung trägt seinen Namen. Es geht um die nach seiner Ansicht überzogene Rolle, die der Religion derzeit zugebilligt wird mit Blick auf Demokratie und moralisches Handeln zum Beispiel.

Was auf seinen Artikel in der „Zeit“ folgte, war eine Flut von Reaktionen und Zustimmung - und bei vielen, die es gelesen hatten, die Frage: Was ist das für ein Autor? Einer der bekannten Namen aus der Gilde der Historiker, Poli- tikerklärer oder Philosophen war’s jedenfalls nicht - sondern? Ein hallescher Hochschullehrer, Jürgen Krätzer vom Germanistischen Institut der hiesigen Universität.

Seit 25 Jahren in Halle

Eingemischt hat sich Krätzer auch sonst immer wieder. Sich eingebracht besser gesagt - dies freilich eher auf einem anderen Gebiet, seinem Gebiet, der Literatur. Da zählt der Leipziger, der - mit Unterbrechungen - seit 25 Jahren in Halle lehrt, zu den gefragten und einflussreichen Experten in Deutschland. Und zu den Machern, denn Krätzer hat als Gastprofessor am Deutschen Literatur-Institut in Leipzig schon manche literarische Hoffnung zu stärken geholfen. Und hat in gleicher Weise auch als Juror bei Wettbewerben, als Moderator und Initiator von literarischen Veranstaltungsreihen oder als Herausgeber von Anthologien gewirkt.

Auch in seinem wichtigsten Nebenher-Projekt füllt er die Rolle des Herausgebers aus. Krätzer ist nämlich der Kopf hinter der Literaturzeitschrift „Die Horen“, die in Göttingen erscheint und als eine der wichtigsten ihrer Art in Deutschland gilt. In vierteljährlicher Erscheinungsweise versammelt sie unterschiedlichste Textarten - unveröffentlichte Erzählungen und Gedichte, Essays oder auch Interviews - mit Fotografie und Grafik unter jeweils einem Thema wie etwa „Literatur und Musik“. Und zugleich unter einem zugkräftigen literarischen Motto wie „Die Stelle des Hofnarren fiel dem Rotstift zum Opfer“.

„Der Wundbrand der Wachheit“

Das jüngste Heft, überschrieben mit „Der Wundbrand der Wachheit“, hat Krätzer zusammen mit Christoph Hein vorbereitet. Es ist dem hundertsten Geburtstag von Peter Weiss („Die Ästhetik des Widerstands“) gewidmet.

Krätzer selbst widmet sich damit einer Kunst, die von manchen schon totgesagt wurde und wird, und deren Künstler es äußerst schwerhaben, weil sie meist nicht von ihrer Kunst leben können. Krätzer sagt, er „bewundere sie dafür“, dass sie dennoch weitermachen.

Doch Jürgen Krätzer sieht die Lage der Literatur auch mit Hoffnung. „Die Poesie war nie tot“, sagt er und verweist gerade auf die Bedeutung, die die „Lyrics“ in der Musik für viele Leute spielen, „die sie oft ganze Konzerte lang auswendig mitsingen“. Der Nobelpreis für Bob Dylan - den Jürgen Krätzer übrigens angemessen findet - zeige, dass „Lyrics als Lyrik ernst zu nehmen sind.“

Hauptthema im Hauptjob

Genau das ist auch ein Hauptthema im Hauptjob von Krätzer, der künftige Lehrer ausbildet: Davon, ob und wie es denen mal gelingt, künftigen Schülergenerationen Literatur nahezubringen, wird für die Literatur selbst viel abhängen. Krätzer geht die Sache schon auch mal experimentell an und lässt von seinen Studenten untereinander die Rollen für „Faust“ oder „Hamlet“ casten, um das Verständnis für die Figuren zu fördern.

Als begeistertem Theaterbesucher ist Krätzer jedoch manches Experimentelle - so der „Regie-Theater-Quatsch“, wie er sagt - zunehmend suspekt. Halles Neues Theater unter Matthias Brenner lobt er dagegen gerade auch dafür, „dass es hier noch um Texte geht“.

In seinem „Zeit“-Artikel über Religion nimmt Krätzer übrigens auch den Spruch des führenden Bischofs der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, aufs Korn, dass „allein die Religion“ es vermöge, „die Seele anzurühren“. Doch er argumentiert nicht nur, nein, der Atheist Jürgen Krätzer tut, mit dem, was er tut, viel dafür, auch die Poesie der Seele nahezubringen. (mz)