MZ-Serie zum Anschlag von Halle - Teil 7 Mit Video: Antisemitismus noch da - „Was haben wir falsch gemacht?“
Der Pädagoge Andreas Dose arbeitet mit Jugendlichen am Tagebuch der Gefühle, das sich mit dem Schicksal von Juden aus Halle befasst. Vier Bänden gelten dem 9. Oktober.
Halle (Saale)/MZ - Ein Tagebuch ist normalerweise etwas Privates – vor allem wenn darin Gefühle beschrieben werden. Das Tagebuch der Gefühle geht einen anderen Weg. Es drängt in die Öffentlichkeit. Das Besondere: Junge Menschen forschen zu Themen wie Antisemitismus und Rassismus. Sie suchen in Halle nach den Biografien von Opfern wie Tätern gleichermaßen.
„Durch die Arbeit am Buch bekommt man einen anderen Bezug zu den Themen. Man ist plötzlich mittendrin“, sagt Philipp, einer von über 300 Jugendlichen, die seit 2011 an den verschiedenen Ausgaben mitgearbeitet haben. Seit dem Anschlag in Halle 2019 befasst sich das Projekt mit der Frage, warum der Antisemitismus nach 1945 in Deutschland nicht verschwand – in Ost wie West.
Anschlag in Halle 2019: Tagebuch-Projekt über jüdische Schicksale
Die treibende Kraft hinter dem Tagebuch ist der Pädagoge Andreas Dose, der beim Bildungsträger SBH Nordost arbeitet. Im Projekt „Stabil“ kümmert sich die SBH um Jugendliche, die am Rande der Gesellschaft stehen – weil sie keinen Schulabschluss haben, keine Ausbildung, dafür aber Probleme.
„Von Geschichte wissen die meisten von ihnen nichts. Aber dieses Wissen ist wichtig, um in die Gesellschaft zurückzufinden“, sagt Dose. Als er von einem Jugendlichen gefragt wurde, „wann denn Adolf Hitler die Mauer gebaut hat“, habe er sich sofort hingesetzt und überlegt, „was falsch gelaufen ist“.
Tagebuch-Projekt soll Jugendliche in Halle für NS-Verbrechen sensibilisieren
Philipp kann es aus eigener Erfahrung erzählen. Als am 9. Oktober 2019 in Halle die Schüsse fielen, habe ihn das zunächst nicht interessiert. „Ich war nicht betroffen. Und ich hatte in meinem Leben andere Sorgen.“
In seiner Schule hätten Jugendliche Nazisymbole getragen und ihre Verbrechen verharmlost. „Durch das Tagebuch der Gefühle weiß ich, dass man die Verbrechen nie vergessen darf. Dazu gehört auch der Anschlag von Halle“, sagt er.
Paul kommt aus anderen Kreisen. Der Abiturient hatte „einen sehr guten Geschichtslehrer“. In seinem Umfeld habe das Attentat alle betroffen gemacht. Warum er dennoch fünf Jahre am Tagebuch mitgearbeitet hat?
„Weil ein Geschichtsunterricht, so gut er auch ist, nie in die Tiefe geht, so wie wir es getan haben. Wir haben den Weg der Juden von der Geburt in Halle bis in die Vernichtungslager nach Auschwitz verfolgt. Das geht unter die Haut.“
Neuer Band vom „Tagebuch der Gefühle“ im Oktober 2023
Das Tagebuch der Gefühle, prämiert unter anderem mit dem Margot-Friedländer-Preis, hat die SBH längst verlassen. Mittlerweile arbeiten junge Menschen aus verschiedenen Bildungseinrichtungen an den Bänden mit. Der sechste Teil wird am 8. Oktober in der evangelischen Gemeinde Trotha vorgestellt. Band sieben, für 2024 avisiert, wird den Anschlag von Halle mehr denn je in die Breite der Stadtgesellschaft tragen.
„Wir sammeln 1.000 Stimmen und fragen die Leute, wo sie an dem Tag gewesen sind. Noch heute kann sich jeder, mit dem wir gesprochen haben, daran erinnern“, sagt Paul. Unterstützt wird die SBH dieses Mal vor allem von Mädchen und Jungen aus der Blinden- und Sehbehindertenschule. „Für Menschen mit einer derartigen Beeinträchtigung sind Ereignisse wie der 9. Oktober noch schlimmer“, glaubt Dose.
Ohne die Sehkraft fehle Orientierung. „Dann traut man sich mitunter aus Angst mehrere Tage nicht aus dem Haus heraus.“
Blinde Schüler arbeiten am neuen Tagebuch
Dose will mit den blinden und sehbehinderten Schülern auch nach Auschwitz fahren. Jeder Teilnehmer bekomme einen Paten aus dem Projektteam. Dann sollen die Schüler sagen, was sie empfinden. Etwa den Geruch frischer Blumen neben einer Gaskammer – die der Blinde aber nicht sieht. Dafür sind dann die Sehenden da – wie ein Lotse. Den siebten Teil wird es auch in einer Hörfassung geben.
Der 9. Oktober lässt Andreas Dose indes nicht los. „Wenn man jahrelang am Tagebuch der Gefühle arbeitet und dann so etwas Schreckliches passiert, fragt man sich, ob man als Lehrer selbst genug getan hat.“ Der Antisemitismus sei noch immer da. Für den Kampf dagegen brauche man Bildung. Für alle. Ohne Ausgrenzung.
MZ-Serie: Der 9. Oktober 2019 und seine Folgen
Vor vier Jahren richtete ein rechtsextremer Täter aus Judenhass in Halle und dem Saalekreis ein Blutbad an, bei dem zwei Menschen starben. In einer elfteiligen Serie der MZ und des Landesnetzwerks der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt (Lamsa) lässt die MZ bis zum 7. Oktober Zeitzeugen zu Wort kommen. Ob und wie hat der Anschlag die Stadt verändert?
- Wunde, die nie heilt: Zeitzeugen sprechen über Terror am 9. Oktober in Halle
- Mit Video: Todesangst in Synagoge am 9. Oktober 2019 - „Als es knallte, blieb die Zeit stehen“
- Mit Video: Rabbinerin war in der Synagoge - „Ich gebe dem Täter keine Plattform“
- Mit Video: Lisa Ebert wohnt an der Synagoge - „Ich hätte das Opfer sein können“
- Mit Video: 90 Sekunden reichen - Leipzigerin schafft Gedenkkultur auf Tiktok
- Mit Video: Halles OB Wiegand - „Man kann den Terror nicht ungeschehen machen“
- Mit Video: Anschlagsopfer Jana - „Sie hatte ein reines Herz“
Mit großen Bodenaufklebern wird die Serie begleitet. Sechs sind in der Innenstadt bereits zu finden: an der Synagoge, am Tekiez in der Ludwig-Wucherer-Straße, am Steintor, am Hauptbahnhof, auf dem Riebeckplatz und auf dem oberen Boulevard. Auf die Aufkleber ist ein QR-Code gedruckt. Passanten, die ihn mit dem Handy scannen, sehen kurze Videos, in denen die Zeitzeugen ihre Erlebnisse am und um den 9. Oktober schildern. Der Aufkleber zum siebten Teil wird in der unteren Leipziger Straße an der Ulrichskirche platziert.
Im achten Teil der Serie geht es um die Erinnerungen an das Anschlagsopfer Kevin Schulze aus Merseburg.