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Eisleben Eisleben: Eisenbahnunglück vor 65 Jahren kostete 23 Leben

Von BURKHARD ZEMLIN 17.04.2011, 16:03

EISLEBEN/MZ/BZ. - 17 Menschen starben noch am Unfallort, sechs erlagen im Krankenhaus ihren Verletzungen, sagt Rolf Enke vom Geschichtsverein Eisleben.

An jenem Tag wartete der völlig überfüllte Personenzug P 592 aus Halle vor dem Bahnhof der Lutherstadt auf das Signal zur Einfahrt. Keiner im Zug ahnte, dass im dichten Nebel eine Lok folgte. Der Aufprall um 10.11 Uhr war fürchterlich, plötzlich war die Hölle los, es herrschte das blanke Entsetzen. Mittendrin Rosemarie Boening, die auf dem Weg nach Kreisfeld war, um dort von Verwandten Kartoffeln zu erbitten. Sie hat ihre Erinnerungen aufgeschrieben:

Vorderzähne abgeschlagen

"Ich stand im vorletzten Wagen hinten auf dem offenen Perron. In das Innere zu kommen, war unmöglich, da allein schon in der Toilette fünf Leute standen. Dass uns eine Lok folgte, wussten wir nicht. Wir warteten auf Einfahrt, als ein

Pfiff ertönte, ein Schrei: ,Alles festhalten!' Und schon wurde ich an die Zugwand geschleudert. Ich war von der Leiter, die auf das Dach führte, zusammengepresst, mein Kopf drückte auf die Knie, die an der Zugwand wie festgenagelt waren. Meine sechs Vorderzähne waren abgeschlagen. Blut floss an meinen Beinen. Das kam von einem Mann hinter mir, der schrie: ,Mein Gott, ich verblute!' Mit meinem Kopftuch band er sich sein schwer verletztes Bein ab. Ich habe später noch gesehen, wie er ärztlich versorgt wurde.

Nach über einer Stunde befreit

Die ersten Gleisarbeiter, die an die Unglücksstelle kamen, haben sich die Augen vor Entsetzen zugehalten. Es lief auch russisches Militär vorbei. Mich haben dann Helfer unter der Leiter hindurchgedreht, so dass ich mich an die Perronwand des nächstens Wagens anlehnen konnte. Die Puffer der Wagen waren übereinander gesprungen, und es war nur noch weniger als ein Meter Raum zwischen den beiden Waggons. Ich stand unter Schock, hatte keine Schmerzen und war auch ganz ruhig.

Eine halbe Stunde später kamen die Retter auch zu mir. Von außen konnten sie mich nicht befreien. Sie schweißten ein Loch in die Wand. Ein Mann presste seine Mütze zwischen meine Kniekehlen und die Eisenstange des Handlaufs, so dass ich keine Verbrennungen erlitt. Nach einer weiteren Stunde war ich befreit. Ein Bauernwagen brachte mich zu einem Sammelpunkt. Ich wurde auf das Ende einer Trage gesetzt, auf der ein Heimkehrer lag, seinen durchgehackten Fuß neben mir, die Sohle hing noch am Schuh."

Als Rosemarie Boenings Mutter ihre Tochter abholte, war diese nur noch ein Häuflein Unglück. Während der ganzen Zugfahrt saß sie ängstlich auf dem Fußboden in einer Ecke und zitterte bei jedem Ruck. Vier Wochen später bekam das Mädchen Fieber, wurde von Schreikrämpfen geschüttelt. Jahrelang war es ihr nicht möglich, einen Zug zu besteigen, so groß war ihre Angst.

Ein Bild des Grauens

Georg Just hatte mehr Glück. Er erlebte den Aufprall in einem der vorderen Wagen, unverletzt: "Plötzlich geht ein Ruck durch den Wagen, das Gepäck fällt aus dem Netz. Ich denke an den Lokführer: Kannst du nicht vorsichtiger fahren? Aber der fährt ja gar nicht. Ich schaue aus dem Fenster, kann aber wegen des Nebels nichts erkennen. Wenig später kommt ein russischer Offizier und deutet uns an auszusteigen und zu helfen. Wir nähern uns den letzten Wagen: Ein Durcheinander, Hilferufe sind zu hören. Neben dem Bahngleis hat man begonnen, die Toten und Verletzten hinzulegen. Diesen Anblick und das Geschrei kann ich nicht ertragen. Was um Himmels Willen ist denn hier eigentlich passiert?

Eine Lok hatte den letzten Wagen zusammengedrückt, den vorletzten Wagen auf den drittletzten geschoben. Die Außenwände aus Sperrholz waren zersplittert und hatten sich wie Speerspitzen durch Glieder und Körper der Reisenden gebohrt. Die stabilen Holzbänke hatten leider stand gehalten und sich so zusammengeschoben, dass die Beine der Reisenden unterhalb der Knie fast abgetrennt waren. Menschen, die in dem völlig überfüllten Zug draußen auf dem Trittbrett mitgefahren waren, hingen eingeklemmt zwischen Wagen und Puffern. Ein Bild des Grauens, schlimmer als im Krieg! Schnelle Hilfe war überhaupt nicht möglich. Es dauerte, ehe Helfer mit Schweißgeräten kamen, um wenigstens die Eingeklemmten zu befreien."

Ausmaße erst später erfahren

Georg Just hat daheim in Bocholt die Ausmaße des Unglücks erst viele Jahre später erfahren. Er habe zwar in den 70er Jahren an die Reichsbahn geschrieben und um Auskünfte gebeten, aber keine Antwort erhalten, weil in der DDR ein Mantel des Schweigens über dem Unglück lag. Keiner sollte erfahren, warum die Lok auf den Zug geprallt war.

Es war die Schiebelok, die gegen jede Vorschrift nicht angekuppelt war. Wie man erzählte, sollen russische Armisten mitgefahren sein, wofür allerdings Rolf Enke bei seinen Recherchen noch keinen Beleg gefunden hat. Der Autor des Heimatheftes "Rund um den Bahnhof" hat sich eingehend mit dem Unglück beschäftigt und weiß, dass sich unter den 23 Todesopfern auch zwei Kinder befanden. Doch von einer Beteiligung der Russen weiß er noch nichts.

Der ehemalige Fahrdienstleiter vom Bahnhof Helfta, Lubojanski, versichert jedoch, dass die Russen mit im Spiel waren. In seinen Erinnerungen an den Unglückstag heißt es: "Als ich um 6 Uhr zum Dienst kam, waren dort eine Menge Leute, die anfingen, das zweite Gleis abzubauen. Ich hatte von nichts eine Ahnung. Wir Eisenbahner waren die letzten, die etwas erfuhren." Über Telefon kam die Mitteilung, dass der Zug P 592 mit Schiebelok kommen sollte. Als dieser dann in Helfta einfuhr, folgte die Lok mit einigem Abstand. "Da bin ich zum Lokführer und habe ihn aufgefordert, an den Zug ranzufahren und anzukuppeln. ,Selbstverständlich, wir fahren ran', hat der geantwortet."

Erst jetzt bemerkte Lubojanski, dass sich auf der Lok noch andere Leute befanden. "Soldaten oder Offiziere. Ich weiß nicht. Auf alle Fälle Armisten mit Pistolen. Die machten doch, was sie wollten, die wollten öfter mal anhalten, um mit dem Baukommando zu reden. Darum haben sie nicht ankuppeln lassen. Die wussten nichts von unseren Vorschriften oder wollten nichts wissen."

Drei Eisenbahner verurteilt

Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf, für das am Ende drei Eisenbahner von einem Militärtribunal zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Der Lokführer, der Zugführer und der Leiter der Röblinger Bahnaufsicht. Nur einer von ihnen soll lebend zurück gekommen sein - nach siebeneinhalb Jahren, wird erzählt.

Kein Gericht hat sich je wieder mit dem Fall beschäftigt, über den längst das Gras des Vergessens gewachsen ist. Das weitere Schicksal der verurteilten Eisenbahner liegt im Dunkeln. Doch der langjährige Vorsteher des Bahnhofs Eisleben, Erich Kolditz, hinterließ vor seinem Tod die Versicherung: "Die Eisenbahner waren unschuldig."