Politische Ansichten und Erziehungstipps Politische Ansichten und Erziehungstipps: Gregor Gysi stellt Autobiografie vor

Dessau - Fünf Leben habe er hinter sich, nun führe er das sechste. Sagt Gregor Gysi. Er sagt dies oft in diesen Tagen, schließlich tingelt er durch die Republik, um seine gemeinsam mit Hans-Dieter Schütt verfasste Autobiografie „Ein Leben ist zu wenig“ auf Lesungen, bei Interviews und in Talkshows vorzustellen - die Zeit lässt ihm sein sechstes Leben, in dem ein Abstecher nach Dessau allemal drin ist.
Gysi, der Name sorgte am Dienstagabend für eine ausverkaufte Marienkirche. Und zwei Stunden bot der langjährige Linken-Chef, was man von ihm erwartete: gute, intelligente, charmante Unterhaltung, die niemanden schmerzt.
Gysi wird anerkannt von der Politik, den Menschen und Journalisten
Gysi, vor wenigen Tagen 70 geworden, auf der Bühne, zu seinen Füßen ein freundliches, ihm mindestens wohlgesinntes Publikum - das genau ist Inhalt seines sechsten Lebens, „in dem ich anerkannt werde von der Politik, den Menschen und Journalisten“.
Diese Anerkennung sei ihm nach vielen Jahren der ihm entgegengebrachten Anfeindungen gegönnt. Sie könnte auch damit zusammenhängen, dass er sich als Politiker zurücknimmt, obwohl er immer noch im Bundestag sitzt (freiwillig weit hinten) und die Europäische Linke ihn zu ihrem Chef gewählt hat.
Gregor Gysi gibt den Entertainer in der Marienkirche
In der Marienkirche jedoch gibt er ganz und gar den Entertainer, verwandt mit einer Nobelpreisträgerin und dem ersten deutschen Hühnerzüchter, der vom Moderator nicht gefordert, sondern lediglich mit Stichworten versorgt wird.
Er grenzt sich bewusst ab von Politikern, die nicht wissen, wann sie aufhören müssen (Kohl nennt er und Merkel) und die sich ihre eigenen Niederlagen organisieren müssen.
Gysi: "Man muss sich zurücknehmen können"
„Man muss sich zurücknehmen können.“ Dass Gysi darüber hinaus nicht zum allwissenden und allzuständigen Welterklärer wie weiland Helmut Schmidt mutiert ist, schadet nicht.
Unangenehm aber wird es immer dann, wenn Gysi wider besseren Wissens (wie man annehmen darf) die Lebenswirklichkeit allzu sehr verkürzt, noch unangenehmer, wenn er damit Beifall beim Publikum heischen will.
Gysi spricht in der Marienkirche über den Kapitalismus und Sozialismus
Beispiel 1: „Der Kapitalismus kann keine soziale Gerechtigkeit herstellen.“ Das ist zunächst nicht falsch - wenn man ausblendet, dass „der Kapitalismus“ in Indien sich grundlegend von jenem in Norwegen unterscheidet und die Definition sozialer Gerechtigkeit alles andere als einfach ist, wozu man nur auf die aktuelle Flüchtlingsdebatte schauen muss, um das Problem zu verstehen.
Und, so wie es Gysi formuliert, impliziert die Feststellung, der Sozialismus wäre sozial gerecht gewesen. Wer jedoch zum Beispiel Altenheime in der DDR kannte, musste zu einem völlig anderen Schluss gelangen.
Gysi macht einen Abstecher in die Justiz
Beispiel 2: Dass der von Gysi ausdrücklich genannte Betrug als Eigentumsdelikt härter bestraft wird als Körperverletzung ist Unsinn, wenigstens aber eine unzulässige Verallgemeinerung. Erstens haben sich Gesetzgebung und Gerichtspraxis in den vergangenen Jahren deutlich gewandelt.
Und zweitens taugt gerade der schwer nachweisbare Betrugsvorwurf mit seinen häufigen Freisprüchen so ganz und gar nicht als Beleg für eine ohnehin unhaltbare Behauptung.
Gregor Gysi kritisiert die SPD in der Marienkirche
Beispiel 3: Gysi nörgelt über die SPD und dass die sich auf eine Große Koalition einlassen werde. Die Alternative zur GroKo sei aber eine Entscheidung der SPD für eine Mitte-links-Politik.
Dumm nur, dass derzeit für diese keine Mehrheit in Sicht ist und Gysis eigene Partei, die Linke, gerade eifrige dank des Clinchs zweier machtbewusster Frauen und mindestens eines Strippenziehers im Hintergrund intensiv mit Selbstdemontage befasst ist. Kein Wort dazu von Gysi.
Gregor Gysi gibt Erziehungstipps
Solche Vereinfachungen sind auch deshalb verwunderlich, weil Gysi andere - etwa die AfD - für genau solche Vereinfachungen kritisiert und aus eigener Erfahrung weiß, welch zähes Geschäft Politik ist. Insofern muss man konstatieren: Politische Einsichten brachte der Abend nicht.
Wohl aber einen prima Erziehungstipp für kochuntalentierte Eltern und mäklige Kinder gleichermaßen. Als Gysi sich allein um seinen kleinen Sohn kümmern musste, führte er ein Ritual ein. Auf dessen Frage, was es zum Essen gebe, antworte Gysi: „Entweder Fasan, Rehkeule, Schweinefilet oder Spaghetti mit Tomat…“ Weiter aufzählen musste er nicht. (mz)