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«Ich könnte 20 oder 100 sein»

05.05.2008, 17:41

Halle/MZ. - Bühne. Drei kleine Rollen spielt und spielte sie: in Goethes "Faust", die Fürstin Romanowa im "Zarewitsch". Für das Kulturbund-Ensemble "Die Unverwüstlichen" bearbeitete und inszenierte sie Wolfgang Kohlhaases "Fisch zu viert". Die Truppe tourt mit der Kriminalkomödie durch die Region und wird nach der Eröffnung des Alten Theaters im Herbst erneut in Dessau zu genießen sein. Und jetzt hat sie auch wieder ein Buch herausgebracht, ihr erstes in solistischer Autorenschaft: "Rache ist Senf - 33 Geschichten aus dem Leben einer Schauspielerin".

Viele fröhliche Anekdoten gibt es darin, skurrile Begebenheiten, wie sie nur im Theater geschehen können, in jener ganz eigenen Gesetzen gehorchenden Welt, da die Sicherheitsnadeln der Garderobieren "Komödiantenzwirn" genannt werden. So hieß Ellen-Jutta Pollers erstes Buch, als Gemeinschaftswerk mit zwei befreundeten Schauspielerinnen entstanden. Der Titel des zweiten steht zugleich über der Erzählung, die eine dieser typischen kleinen Gemeinheiten hinter den Kulissen schildert.

Ellen-Jutta Poller fabuliert über die roten Socken des Generalmusikdirektors, beschreibt die unliebsame Entdeckung, welche seine schwedische Gattin beim abendlichen Toilettengang machen musste. Sie berichtet von der Urgroßmutter Babette, die Richard Wagner ein Glas Wasser reichen durfte. Von den Kindern und Kindeskindern. Sie memoriert ihr Bühnenleben in Zwickau, wo sie als Klara in Hebbels "Maria Magdalena" die Souffleuse zum Heulen brachte. In Wismar und Halberstadt spielte sie ebenfalls Theater.

Im vogtländischen Plauen aber wuchs sie auf, und hier wurzeln ihre stärksten, auch den Leser am intensivsten berührenden Erinnerungen. Hier holte die Gestapo den Vater ab, hier erlebte sie jenen furchtbaren 10. April 1945, da die Heimatstadt in Schutt und Asche fiel. Unter dem Beschuss der Tiefflieger rannte das Kind zum Bäcker, um Lebensmittelkarten einzulösen. Im Keller der Baumwollspinnerei überlebte die Familie den Angriff, wurde aber vollständig ausgebombt. Noch heute, schreibt die Autorin, liefen ihr beim Anblick der Hügel rund um Plauen, der "blitzsauberen Dörfer mit ihren hübschen Vorgärten", die Tränen über die Wangen.

Das Erinnern funktioniert bei ihr so: Sie habe kein Zeitgefühl für die Ereignisse, ihr Leben purzele durcheinander "wie in einem großen Topf. Ich könnte 20 oder 100 sein", sagt Ellen-Jutta Poller. Deshalb stehen die Geschichten nicht Schlange in ihrem Gedächtnis. Umso mehr wundere sie sich, was ihr nach und nach alles wieder einfalle. Das schreibt sie dann schnell auf: am Laptop, mit geschätzten drei Fingern.

Nun hofft Ellen-Jutta Poller, dass ihr Büchlein viele Leser findet. Und sie lässt nicht locker, ihre Werke unter die Leute zu bringen. Bei der jüngsten Leipziger Buchmesse stellte sie ihren Geschichtenband vor, "in einem winzigen Café, die Gäste amüsierten sich, es war eine schöne Stimmung", sagt sie. Als Autorin und Aktrice in Personalunion ist sie wieder am heutigen Abend ab 19 Uhr im Palais Dietrich zu erleben. Sie mag das Publikum, den Applaus. Ansonsten wäre sie wohl kaum Schauspielerin geworden.

Ellen-Jutta Poller: "Rache ist Senf". Manuela Kinzel Verlag Dessau-Rosslau / Göppingen, 8,50 Euro