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Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Geschichte neu zum Leben erweckt

Von SILVIA BÜRKMANN 28.01.2011, 20:04

DESSAU/MZ. - Ja, sie hat sich ganz tief einarbeiten müssen in die Materie. Nein, das habe sie nicht belastet. "Da habe ich wohl ein Stück von den Genen meines Vaters mitbekommen." Otto Hausmann liebte die Geschichte. Regionalgeschichte im Besonderen. Und erzog die Tochter Renate auch in schwierigen Zeiten zu differenzierter, wacher Bewertung historischer Ereignisse. Dass sie heute in ihrer Arbeit aufgeht, zeigt ein offenes Gesicht mit leuchtenden Augen.

Renate Schreibers Arbeitsplatz ist das Büro in der Auferstehungsgemeinde im Fischereiweg. Für die Kirchengemeinde bearbeitet die heute fast 60-jährige das Thema "Auferstehungsgemeinde - lebendige Geschichte". Die über das EU-Förderprogramm "Lokales Kapital" geförderte und vom Landesverwaltungsamt bewilligte Maßnahme läuft über zwei Jahre seit August 2009. An 15 Stunden in der Woche taucht Renate Schreiber also ein in die Geschichte ihrer Kirchengemeinde, in der sie getauft und konfirmiert wurde. In der sie fest verwurzelte und lange Jahre auch als Gemeindekirchenrat arbeitete.

Drei Themenkreise beackert sie jetzt: Erstens die Ausstellung über die im Zweiten Weltkrieg gefallenen und zivilen Opfer aus der Gemeinde. Zwischen 1939 und 1945 waren insgesamt 290 Opfer zu beklagen, 234 Soldaten und 56 Zivilisten der Gemeinde. Auch für eine starke Gemeinde, die 1936 noch 5 793 Mitglieder zählte, ein unermesslicher Verlust. Renate Schreiber grub sich in die Chroniken und Register. Studierte 126 Lebensläufe und 140 Feldpostkarten. Der einstige Auferstehungs-Pfarrer Erich Elster war auch Standortpfarrer im Felde. Und bewahrte die Dokumente sorgfältig auf. Und jetzt marschierte Renate Schreiber über die Friedhöfe der Stadt, säuberte Grabtafeln, um dokumentieren zu können, wo die Verstorbenen ihre letzte Ruhe fanden. Familie Hesselbarth beispielsweise wurde mit Vater, Junkers-Mann und Flugkapitän Peter (30 Jahre), Ehefrau Eleonore (28) und dem Sohn Peter (3 Monate) mit einem Streich ausgelöscht. Die Suchende fand deren verwitternde Grabsteine auf dem Ehrenfriedhof in Dessau-Süd. Seit der 80. Wiederkehr der Kirchweih im Februar 2010 legt nun im Gotteshaus am Fischereiweg die neue Ausstellung Zeugnis über die Opfer ab.

In einem zweiten Vorhaben widmet sich die Stunden-Historikerin dem Schicksal der 19 in den letzten Kriegstagen in Hitlers "Volkssturmaufgebot" gefallenen und auf Gräberfeldern vor der Kirche bestatteten Soldaten. Nicolai Clausen war mit 62 der Älteste, Walter Kilian mit 16 der Jüngste. 65 Jahre nach Kriegsende machte sich Renate Schreiber auf Spurensuche, recherchierte, telefonierte, schrieb Briefe, quer durch Deutschland. In drei Fällen konnte sie Angehörige oder Nachfahren ermitteln, die selbst sehr dankbar waren über die späten Nachforschungen. Dagmar Hübener aus Potsdam weiß nun von der gepflegten Grabstätte ihres Vaters Heinz Nordmann. Hermann Fleischers Schwester (heute Lüneburger Heide) kannte ihren Bruder nur aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern. Und Karl-Heinz von Dungen aus dem hessischen Bönstadt wusste zwar, dass er einen Cousin in Dessau hatte, der aber sehr jung starb. Das war Walter Kilian. Die Auferstehungsgemeinde betreut die 19 Grabstätten. In der Osternacht leuchten 19 Kerzen über den Kirchhof.

"Das ist fesselnde Geschichte. Das sind Schätze von Wissen. Aber sie drohen unwiederbringlich verloren zu gehen", erlebt Renate Schreiber bei ihren Nachforschungen die unbarmherzige Vergänglichkeit der Zeit. "Es gibt immer weniger Zeitzeugen", die sich noch einmal öffnen für ein oft dunkles Kapitel ihres Lebens oder ihrer Familiengeschichte. Jetzt schlägt die Stunde der Archivare.

"Aber was kann ein Laie da allein bestellen?" Renate Schreiber blieb nicht allein. Fand ebenso professionelle wie ambitionierte Unterstützung bei den Leuten aus dem Stadtarchiv um Frank Kreißler. Auch die zweite Projekt-Etappe der "Lebendigen Geschichte" fand ihr Ende.

In der finalen, der dritten Etappe wendet sich Renate Schreiber jetzt der Geschichte der Stifterfamilien zu, die das Gotteshaus mit Altar und zehn Bleiglas-Kirchenfenstern schmückten. "Das ist unglaublich spannend und bewegend", blättert die "Historikerin auf Zeit" in dicken Büchern. Ein nächstes kommt hinzu. Das ist schmaler. Ab August 2011 berichtet eine Broschüre über die Projektergebnisse. Da wird Frau Schreiber auch noch Autorin.