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Bestehornhaus Aschersleben Bestehornhaus Aschersleben: Schauspielerin Gina Pietsch über Erich Kästner

Von marianne Bothe 08.02.2015, 17:48
Gina Pietsch setzte sich mit Erich Kästner in ihren Texten und Liedern kritisch auseinander.
Gina Pietsch setzte sich mit Erich Kästner in ihren Texten und Liedern kritisch auseinander. Frank Gehrmann Lizenz

Aschersleben - „Bleib am Leben, sie zu ärgern“, nennt Gina Pietsch ihr Erich-Kästner-Programm. Indem sie den Publizisten und Autor bekannter Kinderbücher, Romane, Drehbücher und unzähliger Gedichte zitiert, beschreibt und bewertet, tut sie am Freitag einiges dafür, dass er lebendig bleibt. Auch wenn der lyrisch-musikalische Abend im Bestehornhaus allein der Unterhaltung dient. So ganz und gar nicht zum Ärgern.

Entwicklung der Menschheit

„Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt“, damit beginnt die Entwicklung der Menschheit. Mit Kästners gleichnamigem Gedicht von 1932 befindet sich Gina Pietsch mittendrin: im Thema menschlicher Verhaltensweisen, im Leben von Kästner, inmitten des Raumes beim Publikum. „So haben sie mit dem Kopf und dem Mund den Fortschritt der Menschheit geschaffen“, resümieren Kästners Verse und enden: „Doch davon mal abgesehen / und bei Lichte betrachtet / sind sie im Grund noch immer die alten Affen.“

Sozialkritik, Humor und Satire, Sprache und Stimme wie Zeit und Zeitgeschichte prägen die folgenden anderthalb Stunden. Die Künstlerin baut ihr Programm biografisch auf, gruppiert Informationen zu Versen. Sie singt Lieder, die Uwe Streibel am Flügel untermalt.

Klug, frei und sozial denkend

Am 23. Februar wäre er 106 Jahre alt geworden - Erich Kästner, der in Dresden und in kleine, sozialdemokratische Verhältnisse geboren wurde, in den Ersten Weltkrieg gezerrt, danach in Leipzig, Rostock und Berlin Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theatergeschichte studierte. Der mit dem Schreiben und journalistischer Arbeit sein Studentenleben sicherte und den es nach Studium und Professur nach Berlin trieb, wo er - klug, frei und sozial denkend - Moderne, Inflation, Verderbtheit und Nationalsozialismus erlebte, beobachtete und beschrieb.

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Zu allen Kästner-Stationen lässt Pietsch die Worte aufleben. Sie nimmt sich selbst zurück und stellt diesen Erich ins Scheinwerferlicht. Sie schont ihn nicht. Da ist zum Beispiel die Beziehung zu seiner Mutter Ida. Zu „Muttchen“, wie er sie anredet, unterhält Kästner Zeit ihres Lebens Briefkontakt, unterzeichnet mit „dein Junge“. Muttchen gab immer alles für ihn, wusch seine Wäsche, sehnte sich nach ihm aus der Ferne und sorgte sich, dass er genügend isst und an die richtige Frau gerät. Nun, Frauen gab es wohl einige in seinem Leben, erfahren die Zuhörer. Clara, Ilse, Margot - auch einen späten Sohn - romantische Liebesgedichte mit Happy End eher nicht.

Einmal forsch, dann einfühlsam heiser bis naiv gehaucht, berlinernd und sächselnd gibt Pietsch alle Arten Frauen, wie Kästner sie lyrisch-prosaisch verewigte. Versatzstücke erzählen von der Animierdame Ellen, die anbietet gegen kleine Preise, Alkohol und sich. Bis zur sogenannten Klassefrau, die Art junger, selbstbewusster Damen, die Kästner achtete. Obschon auch Angst vor Beziehungen sein Begleiter blieb.

Mit Kindern ging es da einfacher. Heute kennt man vor allem seine Kinderbücher, die ab 1929 entstanden. „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“ oder später „Das fliegende Klassenzimmer“ sind ein Begriff. Dabei musste Kästner erst überzeugt werden, nicht nur über, sondern auch für Kinder zu schreiben. Er willigte ein, versuchte es. Mit Erfolg. „Emil und die Detektive“ wurde in 59 Sprachen übersetzt und sieben Mal verfilmt.

Berühmt mit 40 Jahren

„Wenn ich 30 bin, will ich, dass man meinen Namen kennt“, wiederholt Pietsch den jungen Kästner. Mit 40 wollte er berühmt sein. Ein intellektueller Gernegroß, der schnell auffiel, gefiel und aneckte. Denn 1933 brannten auch seine Bücher und Gedichtbände. Das Naziregime verfolgte, verhörte und verhaftete ihn, verbot ihm sein Schreiben, die „pornografischen“ Gedichte des Dr. Kästner. Dennoch emigriert Kästner nicht, was ihm von manchen Kritikern als Anbiederung an das Dritte Reich vorgeworfen wird. Damit sei ihm Unrecht getan, verteidigt Pietsch. Denn mit unterschwelliger Geheimsprache und unter Pseudonym schrieb er zum Beispiel das Drehbuch für den Ufa-Film „Münchhausen“.

Desillusionierter Blick zurück

„Wer nicht zur Welt kommt, hat nicht viel verloren. Ich setze mich sehr gerne zwischen Stühle.“ Der in die Jahre gekommene Gebrauchspoet Kästner begann nach dem Zweiten Weltkrieg wieder als Journalist zu arbeiten, als Autor und Kabarett-Texter. Er lässt seine „kleine Versfabrik“ in München wieder anlaufen: „Die große Freiheit ist es nicht geworden. Es hat beim besten Willen nicht gereicht. Aus Traum und Sehnsucht ist Verzicht geworden… die kleine Freiheit - vielleicht!“ Desillusioniert blickt Kästner 1951 auf den Beginn der Bundesrepublik zurück.

In der Folgezeit wurde der Antimilitarist, Präsident des Deutschen PEN-Zentrums, im Westen Deutschlands mit hohen Auszeichnungen geehrt, unter anderem dem Literaturpreis der Stadt München, dem Georg-Büchner-Preis und Großen Bundesverdienstkreuz. Am 29. Juli 1974 starb er, krank, in München.

„Er hat’s verdient, dass man ihn nicht vergisst“, zeigt sich Pietsch nach ihrer Begegnung mit Kästner überzeugt. Sie verabschiedet sich mit einer Moral aus seiner Feder vom Publikum, das sofort bereitwillig einstimmt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ (mz)