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Joachim Jahns Joachim Jahns: Ein Krieg, zwei Männer und tausend Fragen

Von christian eger 30.11.2011, 10:48
Erwin Strittmatter 1992 im Schulzenhof im märkischen Dollgow.
Erwin Strittmatter 1992 im Schulzenhof im märkischen Dollgow. LUKASCHEK Lizenz

Halle (Saale)/MZ. - Der Dingsda-Verleger Joachim Jahns hat ein buchstäbliches Wende-Buch geschrieben. Wie man es wendet, so liest man. Jahns gelingt das so: Jede Seite des Schutzumschlages ist als ein eigenständiger Titel gestaltet.

Mutmaßlich für den Ostleser gibt es den Titel "Erwin Strittmatter und die SS". Das Foto zeigt den Erfolgsschriftsteller ("Der Laden", "Tinko") in den frühen 40er Jahren in der Uniform eines Wachtmeisters der Schutzpolizei. Strittmatter kann gegen diese Aufmachung nichts einwenden: 1994 ist er 81-jährig gestorben.

Der Titel für den Westleser trägt die Zeile "Günter Grass und die Waffen-SS" und zeigt den Literaturnobelpreisträger so schnurrbärtig, wie er eben heute aussieht. Freuen wird den 84-Jährigen die Kombination von Porträtfoto und SS-Kürzel nicht. Aber sehr wahrscheinlich ist diese Aufmachung verkaufsfördernd, wird sich der Autor gedacht haben. Aber ist das Doppel-Buch auch erkenntnisfördernd? Zur Erinnerung: In den Jahren 2008 und 2009 veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Werner Liersch jeweils einen Zeitungsartikel über die verschwiegenen Erlebnisse Strittmatters im Zweiten Weltkrieg. Der zweite Beitrag meinte zu enthüllen, dass der 1941 zur Ordnungspolizei einberufene Spremberger Bäckersohn auch Mitglied der SS gewesen sei, weil die Ordnungspolizei 1943 dem Reichsführer SS als Chef der Polizei unterstellt wurde. Strittmatter, der gute SED-Mann aus dem Havelland - ein SS-Scherge? Nein, nein, rief die Strittmatter-Fraktion 2008.

Im Jahr darauf erklärte der von der Strittmatter-Witwe Eva zu Recherchen beauftragte Historiker Bernd-Rainer Barth, dass sich Strittmatter einerseits 1940 als 27-Jähriger vergeblich zur Waffen-SS gemeldet hatte (Barth: "Der wollte nur raus"), dass er andererseits als ein der SS unterstellter Ordnungspolizist aber nicht automatisch Mitglied der SS gewesen sei.

Joachim Jahns prüft nun die Akten. Gegen eine 2009 von Eva Strittmatter überlieferte Mitteilung ihres Mannes zweifelt er an, dass sich dieser 1940 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet habe. Die im Buch abgebildete Musterungskarte ist zwar von einem SS-Untersturmführer verfasst worden, erlaube aber nach Jahns keinen Rückschluss auf eine SS-Verwendung; für Jahns sei das nur eine Prüfung der "SS-Tauglichkeit". Und: Strittmatter sei 1941 zur Ordnungspolizei nicht etwa "einberufen" worden, sondern habe sich freiwillig gemeldet. Für diese Meldung sei die Prüfung der "SS-Tauglichkeit" notwendig gewesen; zudem spreche der Anfangs-Dienstgrad des Revier-Oberwachtmeisters für die Freiwilligkeit. Längliche Erörterungen dieser Art bettet Jahns in Recherchen der frühen Lebenswelt Strittmatters ein. Und was hat das mit Grass zu tun?

Nun ja: Grass wurde im Herbst 1944 zur Waffen-SS einberufen, was er erst 2006 vor der breiten Öffentlichkeit enthüllte. Grass widmete dem Dichter Bertolt Brecht einen Auftritt in seinem 17. Juni-Stück "Die Plebejer proben den Aufstand" (1966); Strittmatter war seinerseits ein Star der Brecht-Bühne. Grass liebt magische Einsprengsel in der Prosa, Strittmatter auch. Durchaus weist Jahns auf einige interessante Korrespondenzen im Werk und Wirken der Kollegen hin, aber gewinnbringend darlegen kann er diese nicht. Eine Information bleibt unerwähnt: Strittmatter war 28, als er sich zur Waffe meldete, Grass erst 17. Alles in allem: Joachim Jahns liefert viele kleine Befunde, aber fast durchweg fehlt ihm die Distanz, diese schlüssig zu präsentieren. Als Leser sieht man den Wald vor Bäumen nicht, aber immer den Autor. Und hört dessen unbeantwortete Fragen.

War Grass tätowiert, will Jahns wissen; die FAZ hatte 2006 erklärt: "Tätowiert wurde er nicht". Warum hatte Grass nie den Kontakt zu Brecht gesucht? Jahns ist diese Auskunft wichtig. Aber warum holt er sich die nicht? Denn wenn die Antwort nicht allein der Wind weiß, dann vielleicht Grass selbst. Er ist telefonisch erreichbar.

60 Exemplare des Buches gibt es zum Preis von jeweils 99,90 Euro mit einer handsignierten Grafik von Juliane Jahns "Pedro, Erwin und der Mond".