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  7. 9. Oktober 1989: Halle erlebt gewaltsame Unterdrückung durch Staatsmacht bei Montagsdemo im Wende-Herbst

9. Oktober 1989 Erinnerungen an den 9. Oktober 1989: Halle und die Schatten der Staatsgewalt im Wende-Herbst

Am 9. Oktober 1989 erlebte Halle eine Nacht der Gewalt, in der die Staatsmacht wahllos und brutal gegen Bürger vorging. Ein zweistündiger Stasi-Film hält die Ereignisse von damals fest.

Von Christian Eger Aktualisiert: 09.10.2023, 10:29
Die friedliche Revolution in der DDR nimmt ihren Lauf - auch in Halle. Dieses Foto zeigt nicht die Demonstration am Montag, den 9. Oktober, sondern am 16. Oktober 1989. Die Polizei schritt an diesem Abend nicht mehr ein.
Die friedliche Revolution in der DDR nimmt ihren Lauf - auch in Halle. Dieses Foto zeigt nicht die Demonstration am Montag, den 9. Oktober, sondern am 16. Oktober 1989. Die Polizei schritt an diesem Abend nicht mehr ein. (Foto: Zeitgeschichten Verein)

Halle (Saale) - Es gibt kein Foto. Kein einziges Lichtbild ist bislang öffentlich überliefert von der halleschen Protestdemonstration am 9. Oktober 1989. Es gibt oft veröffentlichte Fotografien, die aber Szenen der Montagsdemonstrationen am 16. oder 23. Oktober zeigen. Es gibt viele Bilder von der Mahnwache an der halleschen Georgenkirche. Doch alles das sind Folgeaktionen des 9. Oktobers vor 34 Jahren, der nicht nur in Leipzig, sondern auch in Halle ein denkwürdiger Tag war.

Statt immer wieder die Frage zu stellen: Wo warst du am 9. November 1989, wäre besser danach zu fragen: Wo warst du am 9. Oktober 1989? An jenem Tag also, an dem sich in der DDR entschied, ob der in vielen Städten aufflammende Protest auf eine gewalttätige Gegenwehr stoßen sollte oder nicht.

Unsichtbare Geschichte: Keine Fotos von Protesten am 9. Oktober 1989 in Halle

Einem Tag, an dem nichts klar war. An dem die Menschen, die sich dafür entschieden hatten, sich öffentlich zu versammeln, etwas wagten, in dem sie  aus ihren persönlichen Umständen buchstäblich heraustraten.

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Mit Risiko behaftet war dieser Einsatz nur bis zum 9. Oktober. Alles hing von der Reaktion der Staatsmacht ab. In Halle griff sie brutal und stumpfsinnig zu. Im Gegensatz zu Leipzig wurde nicht auf Besonnenheit, sondern von Anfang an auf Einschüchterung und Gewalt gesetzt. Wahl- und rücksichtslos ging die Polizei gegen die Menschen vor.

Der entscheidende Tag: 9. Oktober 1989

Auch wenn es keine Fotografien gibt, so liegt doch ein Film von zwei Stunden und 20 Minuten Länge vor, aufgenommen mit drei Kameras, von denen zwei offenbar im Ratshof stationiert waren. Anders als in Leipzig filmte nicht die Opposition, sondern die Stasi. Der Film zeigt ein düsteres Gewoge von zivilen und uniformierten Körpern, das vor Augen führt, wie die Lage jederzeit hätte eskalieren können.

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Ein Stasi-Protokoll nennt etwa 25 Schlagstock-Einsätze. Doch wer soll die gezählt haben? Verhaftet wurde nach dem Zufallsprinzip. Auch wer nur den Marktplatz  passierte, lief Gefahr „zugeführt“ zu werden. Insgesamt 85 Verhaftungen sind heute bekannt; die wenigsten davon galten Demonstranten. Wer festgenommen war, wurde auf Lastwagen in die Transportpolizei-Schule in der Reideburger Straße transportiert; seit einigen Tagen erinnert eine Tafel daran.

Risikoreicher Protest und Staatsreaktion

Der damals 25-jährige Bürgerrechtler Matthias Waschitschka gehörte zu denen, die vor der Demonstration zu Verhören abgeholt wurden. Er war es, der Tage zuvor die Nachricht gestreut hatte, dass es am 9. Oktober um 17 Uhr zu einer Demonstration auf dem Markt kommen würde.

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Anfangs eine erfundene Meldung, die sich als ein sich selbst erfüllendes Gerücht erwies. Am 8. Oktober verabredeten hallesche Pastoren ein Friedensgebet ab 17 Uhr in der Marktkirche. Das Motto: „Gewaltloses Widerstehen“, „Schweigen für Leipzig“, „Schweigen für Reformen“, „Schweigen für Hierbleiben“.

Rund 400 Menschen gingen am 9. Oktober 1989 in Halle auf die Straße

Zeilen, die auf dem Transparent standen, um das sich von 16.40 Uhr an Menschen vor der Marktkirche sammelten. Eine kleine, ihrer Zahl nach strittige Menge, die - laut Stasi - auf etwa 400 Personen anwuchs, bevor die Polizei einschritt.

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Mit einer Doppelkette, die von der Marktmitte aus beiderseits loslief, versuchten die Uniformierten den Platz zu räumen; der Pfarrer der Evangelischen Studentengemeinde, Michael Körner, der in eine der Ketten geraten war, wurde von den Polizisten zu Boden geworfen.

300 Menschen in der Kirche: Draußen macht die Staatsmacht Jagd auf Bürger

Die Menschen wurden in die Seitenstraßen abgedrängt. Oder in die Marktkirche hinein, in der sich von 18 bis 19 Uhr mehr als 300 Menschen versammelten. In der Kirche war ein offenes Mikrofon eingerichtet worden. Hier wurde gesprochen und gebetet, während draußen die Lage zu eskalieren drohte. Wenn sich die Kirchentür öffnete, konnte man die Uniformierten laufen sehen.

Wer dabei war, weiß: Es war auch eine peinliche, nämlich auch eine peinigende Situation in einer Kirche zu sitzen, während draußen die Staatsmacht Jagd aufs Volk machte. Schließlich wurden die stillsitzenden Protestler einzeln durch ein Polizeispalier nach 19 Uhr aus der Kirche heraus zum Hallmarkt geschleust. Die Demo war aus.

Nur eine kleine Minderheit in Halle war am 9. Oktober 1989 auf der Straße

Hätte man an diesem Abend nicht gemeinsam vor die Kirchentür treten sollen? Eine Menschenmenge, die ein Zeichen setzt? Diese Frage steht. So wie die Feststellung, dass einige wenige Hundert Demonstranten eine verschwindend kleine Zahl sind in einer Universitätsstadt von damals noch 310.000 Einwohnern.

Auch dann, wenn eingeräumt ist, dass einige Hallenser zum Protestieren nach Leipzig gefahren sind. Die hallesche Störung: keine Menschenmassen, stumpfe Gewalt, ein Rückzug in den Kirchenraum - das sind die Unterschiede zu Leipzig. Die Zurückhaltung der Leipziger Polizei entschied über den Verlauf der Revolution. Der hallesche Weg wäre kein friedlicher gewesen.

(Dieser Text ist zuerst am 9. Oktober 2019 erschienen und wurde jetzt aktualisiert.)