Hartmut von Hentig Hartmut von Hentig: «Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein»

München/dpa. - Diese bildungspolitische Medizin möchteder 81-jährige Reformpädagoge Hartmut von Hentig am liebsten derJugend in Deutschland verschreiben - gegen das Gefühl, aus derGesellschaft ausgeschlossen zu sein, gegen Frust und Gewaltausbrüche.Diese konkrete Utopie und pragmatische erste Schritte zu ihrerVerwirklichung legt der Publizist gut lesbar in dem schmalen Band«Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein» dar.
Der Titel beschreibt treffend den Grundgedanken des Pädagogen, derbereits 1974 mit der Gründung der Laborschule Bielefeld Aufsehenerregte: Ein Mensch muss sich als Teil des Gemeinwesens erfahren, umdessen Leistungen für den Einzelnen zu erkennen und wertzuschätzen.Da diese elementare Erfahrung in unserer individualisierten undzugleich globalisierten Gesellschaft nur schwer möglich sei, müsstenentsprechende Situationen für die Heranwachsenden geschaffen werden.Denn dies leisteten auch die üblichen Schulen in Deutschland nicht.
Deshalb müssten 13- bis 15-Jährige in der schwierigen Phase ihrerPubertät für zwei Jahre «entschult» werden, um in gemeinschaftlichenProjekten außerhalb der Schule wie in Kindergärten, Altersheimen, inder Landschaftspflege oder am Theater auf ganz neue Art zu leben undzu lernen. Dazu schlägt von Hentig zunächst einen zehnjährigenVersuch in einer Großstadt und einem Landkreis mit freiwilligenTeilnehmern vor. In einem kleinen Exkurs lotst er den Leser durch dieetwa 100-jährige Geschichte einer Reformpädagogik, die schulischesLernen, Arbeiten und Leben verknüpfen möchte. Dabei verweist er auchauf die Pfadfinder, die das Erleben von Natur und Gemeinschaftermöglichen.
«Ich wünsche (...), dass junge Menschen erfahren, was eineGemeinschaft ist, was sie gibt und fordert - eine größere als dieFamilie, in die sie hineingeboren sind, und eine weniger künstlicheund zufällige als die Schulklasse, in die man sie hineinverwaltethat», schreibt der Pädagoge. Vor allem dieses Ziel verfolgt auch dereinjährige «Dienst am Gemeinwesen», der nach dem Modell von Hentigsbis zum 25. Lebensjahr geleistet sein muss. Möglichen Kritikern, diegegen einen Zwang sind, hält der Autor entgegen: «Pflicht» kommeeigentlich von «pflegen» im Sinn von «für etwas einstehen». Auf jedenFall setzt ein solches Pflichtjahr eine Grundgesetzänderung voraus.
Was nicht zeitgemäß erscheinen mag, ist jedoch hoch aktuell. VonHentig zieht mit seinem Modell nur seine Konsequenzen aus einemMangel, den auch andere erkennen. So fordert die private Bucerius LawSchool (Hamburg) von ihren Studierenden ausdrücklich «sozialeKompetenz» und «Verantwortungsbewusstsein». In Hessen lobte geradeKultusministerin Karin Wolff (CDU) den Erfolg von speziellen Klassen,in denen schwache Hauptschüler der Jahrgangsstufen 8 und 9 auf dieKernfächer abgespeckten Unterricht erhalten und regelmäßig zwei Tagepro Woche in Betrieben arbeiten. Vergleichbare Projekte in anderenBundesländern führen ebenfalls mehr Schüler zum Abschluss.
Zwar dürfte der angeregte «Dienst für das Gemeinwesen» eineDebatte über den Verpflichtungsaspekt und die verlängerte Zeit vordem Berufseintritt auslösen, doch der Grundgedanke fällt nicht insLeere. Offensichtlich habe viele junge Menschen heute den Wunsch nacheinem vergleichbaren Einsatz: Für das freiwillige soziale oderökologische Jahr gibt es mehr Bewerber als Plätze. Das ergab eineEvaluation des Bundesjugendministeriums vom Juli. Demnach hat die imJahr 2002 erfolgte Öffnung für Kultur, Sport und Denkmalpflege dieFreiwilligendienste noch attraktiver gemacht.
«Junge Menschen, die ein freiwilliges soziales oder ökologischesJahr absolvieren, bereichern mit ihrer Arbeit nicht nur dieGesellschaft sondern auch sich selbst. Sie erlernenSchlüsselkompetenzen, die ihnen später im Berufsleben oder wenn esdarum geht, einen Ausbildungsplatz zu erwerben, entscheidend weiterhelfen können», meint Bundesministerin Ursula von der Leyen (CDU).(Internet: Bundesfamilienministerium:www.bmfsfj.de/Kategorien/Presse/pressemitteilungen,did=78120.html)
Hartmut von Hentig: Bewährung Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein Carl Hanser Verlag, München 112 S., Euro 12,50 ISBN-10: 3-446-20776-7