Landtagswahl in Sachsen Landtagswahl in Sachsen: Michael Kretschmer zwischen Wut und Würstchen

Dresden - Es schüttet in Treuen im Vogtlandkreis, und statt Michael Kretschmer kommt als Erstes ein Marder. Eilig duckt er sich unter ein Auto, dann eilt er Richtung Fleischerei. Dort gibt es Jägerschnitzel und Lammeintopf im Angebot. Auf dem Marktplatz steht eine froschgrüne Minibühne. Davor warten ein paar Dutzend Leute mit Schirmen. Auf Tischen weichen die Broschüren des örtlichen CDU-Kandidaten auf. Nach einer Weile hastet der Marder wieder zurück. Und dann taucht auch Kretschmer auf, eine halbe Stunde später als geplant.
Aber immerhin scheint nun die Sonne. „Ganz lieb, dass Sie den Regen abgeschaltet haben“, sagt Kretschmer. „Ich habe jetzt Zeit.“ Ein schmaler, jungenhafter 44-Jähriger mit Dreitagebart steht da nun, ernster Blick, weißes Hemd, das Jackett in der Hand. Es ist warm geworden.
„Jetzt muss ein neuer Schwung ins Land kommen“, sagt Kretschmer und lässt dann einen regelrechten Wortschwall folgen: schnelles Internet, neue Polizisten, Ärzte, Pflegeheime - alles kommt darin vor. Kretschmer war Bundestagsabgeordneter, seit knapp zwei Jahren ist er Ministerpräsident in Sachsen. Er will es gern bleiben, auch nach der Landtagswahl am 1. September.
Kann sich CDU bei Landtagswahl in Sachsen gegen AfD behaupten?
Bei der geht es um weit mehr: Es geht darum, ob in dem wirtschaftlich erfolgreichsten der ostdeutschen Länder eine Partei zum bestimmenden Faktor wird, die Rechtsextreme in ihren Reihen duldet. Es geht darum, ob die CDU sich gegen die AfD behaupten kann, die hier in den Umfragen kurz hinter ihr liegt, bei der Europawahl im Mai in vielen Wahlkreisen vorne lag und bei der Bundestagswahl 2017 drei Direktmandate gewonnen hat.
Es geht darum, ob die CDU der AfD widerstehen kann, wenn es nach der Wahl neben einem Bündnis mit den Rechtspopulisten nur die Alternative geben sollte, mit SPD, Grünen und Linkspartei eine Vierer-Koalition zu schließen. Eine Zusammenarbeit mit der AfD hat die CDU ebenso ausgeschlossen wie die mit der Linkspartei.
Es blicken also viele auf Kretschmer gerade, nicht nur auf dem Marktplatz im südwestlichen Sachsen - sondern auch in Berlin, wo die Große Koalition beständig wackelt und die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Konkurrenten zwar einmal, aber wohl noch nicht endgültig besiegt hat. Wenn die Sache in Sachsen schiefgeht für die CDU, hat sie das nächste Problem.
Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil Sachsen immer eine sichere Bank war für die CDU. 30 Jahre lang hat die Partei hier regiert, die Hälfte davon, bis 2004, mit absoluter Mehrheit. Der erste Nach-Wende-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf kam aus Nordrhein-Westfalen und bekam den Spitznamen „König Kurt“. Damals lag die Arbeitslosenquote mehr als doppelt so hoch wie heute.
Heute sagt der amtierende Ministerpräsident Kretschmer in seinem Wahlwerbespot als ersten Satz: „So geht’s nicht weiter.“ Man könne doch viel schaffen, fährt er fort und fragt: „Was ist denn hier in Deutschland los?“
Die CDU als kleines Logo
Es ist der Ton des Protests, den Kretschmer aufnimmt. In Sachsen haben die Demonstrationen von Pegida begonnen. Kretschmer fragt nach Deutschland. Die CDU kommt erst am Schluss ins Bild, als kleines Logo. „Früher haben wir von der Marke CDU profitiert“, sagt ein CDU-Landtagskandidat. „Das hat sich geändert.“ Kretschmer setzt also auf Abgrenzung. Die Parteispitze erklärt die Klimapolitik zum nächsten wichtigen Thema. Kretschmer - die sächsischen Kohlereviere vor Augen - warnt, man dürfe nicht übertreiben.
Er fährt nach Russland, trifft dort Präsident Wladimir Putin und fordert ein Ende der Sanktionen. CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer widerspricht und erinnert an die Besetzung der Krim. Kretschmer beschwert sich über mahnende Zeigefinger.
Um seine Botschaften unter das Volk zu bringen, reist er durch ganz Sachsen. Stellt sich auch mal an den Grill. Verteilt Bratwürstchen an die Menschen, die mit ihm ins Gespräch kommen, ihm ihre Sorten, Ängste und Wünsche mitteilen. Auf dem Marktplatz in Treuen fragt eine Frau wann die Grundrente, über die die Bundesregierung sich seit Monaten streitet, endlich komme. „Nicht akzeptabel und nicht anständig“ sei das von der GroKo, antwortet Kretschmer, der sich auf solchen Veranstaltungen häufig zwischen Wut und Würstchen bewegt.
Sollte Kretschmer sein Direktmandat verpassen, wäre seine Position in CDU geschwächt
Das schwierigste Nachwahlszenario für ihn und die CDU hätte zwei Komponenten: Die Landtagssitze sind auf so viele Parteien verteilt, dass nur ein Regenbogenbündnis möglich ist - inklusive Linkspartei also. Bei der Görlitzer Oberbürgermeisterwahl in diesem Jahr konnte sich der CDU-Kandidat nur durchsetzen, weil er von SPD, Grünen, FDP und Linkspartei unterstützt wurde.
Der in der Stichwahl unterlegene AfD-Mann tritt nun gegen Kretschmer an - das ist Kretschmers zweite große Klippe. 2017 hat er sein Bundestagsdirektmandat an die AfD verloren. Wenige Monate später übergab ihm Ministerpräsident Tillich die sächsische Staatskanzlei. Ein Regierungschef in Sachsen braucht formal kein Landtagsmandat. Aber sollte Kretschmer erneut sein Direktmandat verpassen, wäre seine Position in der CDU zumindest geschwächt. Kretschmer wird schmallippig, wenn man ihn darauf anspricht. „Görlitz ist meine Heimat. Da bin ich geboren und aufgewachsen“, sagt er dann. Er kenne da so viele Leute. Allerdings war das auch schon bei der Bundestagswahl so. Die Frage nach einer Palastrevolution liegt also auf der Hand.
„Wie blöd wären wir, wenn wir unseren beliebtesten Mann opfern?“, entgegnet ein Landtagsabgeordneter. „Wer sollte denn so eine Palastrevolution machen?“, fragt ein anderer CDU-Mann. Den meisten aber fällt bei dem Thema gleich ein Name ein, auch wenn sie ihn gleich wieder verwerfen: Christian Hartmann, der Vorsitzende der Landtagsfraktion. Der 45-Jährige hat im vergangenen Jahr eine Koalition mit der AfD erst nach einigem Zögern ausgeschlossen.
„Habt ihr in der CDU keine Männer mehr?“
In der Parteispitze heißt es, Hartmanns Linie sei immer völlig klar gegen die AfD gewesen, er habe nur mal keine Lust gehabt, eine Frage zu beantworten. Im Wahlkampf tourt der gelernte Polizist durchs ganze Land, gemeinsam mit dem ehemaligen ARD-Fußballkommentator Waldemar Hartmann. Der Sportjournalist Hartmann spricht über seine Bekanntschaft mit Franz Josef Strauß, wundert sich angesichts von Parteichefin, Kanzlerin und EU-Kommissarin: „Habt ihr in der CDU keine Männer mehr?“, und stellt bei diesem oder jenem fest: „Das wird man doch sagen dürfen.“
Der Politiker Hartmann beklagt sich über die Bundespolitik und sagt, Frauenquoten seien nicht sinnvoll, weil dadurch Leistungsträgerinnen diskriminiert würden. Michael Kretschmer hat erstmals die ersten 20 Plätze der Landesliste paritätisch besetzt. Über die AfD sagt Hartmann, sie spiele mit den Sorgen der Menschen. „Und wer mit Ängsten spielt, hasst andere.“
56 von 60 Direktkandidaten der CDU haben auf Nachfrage der Initiative „Zukunft Sachsen“ eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen. Aus voller Überzeugung? „Wenn man wortbrüchig würde, würde ein gewaltiger Riss durch die Partei gehen“, sagt ein Landtagsabgeordneter und erzählt, dass ganze Ortsverbände ihm schon gedroht hätten, in so einem Fall aus der CDU auszutreten. Eine Mehrheit werde eine Umsturztruppe nicht finden. Darauf setzen auch die Bundes-CDU und ihre Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer - sie müsste ja sonst überlegen, einen ganzen Landesverband aus der Partei zu schmeißen.
Die Übergänge allerdings sind fließend. Kretschmer hat Anfang des Jahres den Politikwissenschaftler Werner Patzelt als Berater geholt, der zunächst noch Gespräche mit der AfD empfahl, mittlerweile aber eine Minderheitsregierung favorisiert.
Und dann ist da noch Hans-Georg Maaßen. Ende des vergangenen Jahres verlor der seinen Job als Verfassungsschutzchef, weil er sich nach den rechtsextremen Demonstrationen in Chemnitz lieber von der Bundesregierung als von den Extremisten distanzierte. Seitdem wettert er erst recht gegen die Regierung. In der Berliner CDU-Zentrale ist man von ihm, dem Mitglied der ultrakonservativen Werteunion, mindestens schwer genervt, wie der verbale Flirt Annegret Kramp-Karrenbauers mit einem Parteiausschluss am Wochenende zeigte. In den ostdeutschen Landesverbänden dagegen genießt er erhebliche Sympathien - abzulesen am Widerspruch für die Parteichefin. Auch die AfD findet ihn ganz gut.
Applaus aus den AfD-Reihen
Maaßen hat den Christdemokraten in Sachsen seine Unterstützung angeboten. Der Landesverband hat abgelehnt, aber Landtagspräsident Matthias Rösler etwa hat dennoch zugegriffen. Auch der Ausländerbeauftragte Gerd Mackenroth hat Maaßen eingeladen, nach Riesa, in einen Hotelsaal nahe dem Bahnhof. Rund 80 Leute sind gekommen. Die Hälfte seien AfD-Anhänger, schätzt Mackenroth. Er hat die Hoffnung, einige Wähler zurückzugewinnen.
„Ich bin kein apokalyptischer Reiter“, betont Maaßen und spricht über Anschläge, über Straftaten von Ausländern und seine Zweifel am Funktionieren des Rechtsstaats. Die AfD-Reihen applaudieren. Würden Sie mit der AfD koalieren, fragt Mackenroth Maaßen. Die AfD sei „ein gäriger Haufen mit vernünftigen und radikalen Leuten“, antwortet Maaßen. Derzeit sei sie so „nicht koalitionsfähig“. Aber sie könne sich ja „in die eine oder andere Richtung entwickeln“.
Am Treuener Marktplatz umkreist mittlerweile eine Wespe den örtlichen Landtagsabgeordneten. Er habe Bienenstöcke, sagt Kretschmer. Deshalb wisse er, wie man mit solchen Angreifern umgehen müsse. „Es hilft nur: nichts machen. Einfach dastehen.“
Michael Kretschmer in Sachsen verwurzelt
Michael Kretschmer wurde am 7. Mai 1975 in Görlitz geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Büroinformationselektroniker. Später erwarb er die Fachhochschulreife und studierte Wirtschaftsingenieurwesen. Seit 2002 darf er sich Diplom-Wirtschaftsingenieur nennen.
Kretschmer trat 1989 in die Christlich Demokratische Jugend ein. Zwischen 1993 und 2002 gehörte er dem Landesvorstand der Jungen Union Sachsen und Niederschlesien an. Später begleitete er in der sächsischen CDU verschiedene Ämter.
Von 2002 bis 2017 gehörte Kretschmer dem Bundestag an - stets als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Löbau-Zittau. Das verlor er bei der Wahl 2017 an den AfD-Kandidaten. Im Dezember 2017 wurde er CDU-Landeschef. Zudem trat er die Nachfolge von Stanislaw Tillich als Ministerpräsident des Freistaates an. (mz)
