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Fehlende Generationengerechtigkeit Boomer-Soli und Rentner-Pflichtjahr: Wie sich Marcel Fratzscher den sozialen Umbau vorstellt

Seit er einen Boomer-Soli und ein Pflichtjahr für Rentner vorgeschlagen hat, ist Marcel Fratzscher in aller Munde. In seinem Buch „Nach uns die Zukunft“ führt der Berliner Ökonom seine Ideen für den gesellschaftlichen Umbau detailliert aus.

Von Steffen Könau Aktualisiert: 30.09.2025, 12:11
Deutschlands Star-Ökonom Marcel Fratzscher möchte den Generationenvertrag kündigen und neu aushandeln.
Deutschlands Star-Ökonom Marcel Fratzscher möchte den Generationenvertrag kündigen und neu aushandeln. (Foto: Imago/Mike Schmidt)

Halle/MZ. - Die Zielgruppe ist sauer, und weil sie in einer Generation zu finden ist, die gern auch noch zu Füller, Kugelschreiber, Schreibmaschine und E-Mail greift, fegt der Sturm der Empörung nicht nur durch die sozialen Netzwerke.

Es hagelt vielmehr Leserbriefe in Zeitungsredaktionen, eine Flut an Elektropost geht ein und es klingeln sogar die guten alten Festnetztelefone.

Der Tenor ist einhellig: Da komme wieder einer, der alles schlechter machen wolle. Da greife wieder jemand dort zu, wo es die trifft, die zwar zahlreich sind, aber nicht auf Rosen gebettet.

Zum Thema: „Bodenlose Frechheit“ - Was Rentner in MSH zum Vorschlag des sozialen Pflichtjahrs sagen

Marcel Fratzscher, der nach Wegen sucht, ein dysfunktionales System zu flicken, ist zum Buhmann – oder hier wohl besser Boomann − einer ganzen Generation geworden.

Empörung über Fratzschers Vorschlag zu Pflichtjahr für Senioren

Was denke sich wohl jemand, der selbst sicher ein tolles Gehalt kassiere, wenn er Menschen, die 45 Jahre oder länger auf dem Bau, im Büro oder in einer Montagehalle geschuftet haben, bei Renteneintritt noch ein Jahr Pflichtdienst an der Gesellschaft verordnen wolle?

Und es sei doch wohl die Höhe, dass alle, die unter ihnen, die fürs Alter gespart haben, nun auch noch mit einer Extra-Solidarabgabe dafür bestraft werden.

Seit Marcel Fratzscher die ersten Interviews zu seinen Ideen vom „Boomer-Soli“ und dem Pflichtjahr für Neurentner gegeben hat, ist der 54-Jährige der Watschenmann der Nation.

Altersversorgung in Deutschland: Vorschlags des DIW-Chefs kommt nicht gut an

Selten zuvor waren Vorschläge zum Umbau der sozialen Sicherungssysteme so utopisch wie die des Chefs des Berliner Wirtschaftsforschungsinstitutes DIW. Selten zuvor wurden sie so ernsthaft diskutiert. Und wohl nie zuvor haben sie einhellig eine solche Ablehnung erfahren.

Ungerecht sei die Vorstellung, jedem Rentner den Teil seiner Altersbezüge extra zu besteuern, der einen monatlichen Freibetrag von 1.048 Euro übersteige – obwohl die Durchschnittsrente in Deutschland derzeit bei nur 1.154 Euro pro Monat liegt.

Vorgeschlagener "Boomer-Soli" sorgt für Kontroverse

Und nicht weniger absurd der Gedanke ausgerechnet die als „Boomer“ bezeichnete Generation der zwischen 1946 und 1964 geborenen Menschen an ihrem Lebensabend zu einem Pflichtdienst zu zwingen.

Schließlich, argumentierten die Kritiker des 1971 in Bonn geborenen Wirtschaftswissenschaftlers, seien es genau diese Jahrgänge gewesen, die bereits Wehrdienst geleistet oder Kinder unter Bedingungen großgezogen hätten, die mit denen heute kaum vergleichbar gewesen seien: Zumindest in Westdeutschland kaum Kindergartenplätze.

Im Osten dafür 40-Stunden-Woche, Schlangestehen, Windelwaschen per Hand und „freiwillige“ Subbotniks am Samstag.

Zum Thema: Renten-Schock in Sachsen-Anhalt: Jahrzehnte gearbeitet – und trotzdem kaum Geld im Alter

Deutschland wird immer älter - Anzahl der Senioren steigt

Fratzscher, ein großer, kräftiger Mann, der in Kiel, Oxford, Harvard und Cambridge studiert hat, wusste sicher genau, welchen Orkan er mit seinen Thesen auslösen wird.

22 Prozent der Deutschen sind heute schon älter als 65 Jahre, der Trend zur Alterung der Gesellschaft wird sich in den kommenden Jahren nicht nur fortsetzen, sondern verstärken.

Aus den heute 19 Millionen Seniorinnen und Senioren werden schon 2030 mehr als 20 Millionen geworden sein. Bis 2040 dann wächst ihre Zahl auf deutlich über 27 Millionen.

Zahl der Rentner steigt: Fratzscher fordert neuen Generationenvertrag

Das Problem dabei: Von den derzeit rund 45 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter bleiben dann nur noch etwas über 35 Millionen.

Das bedeutet: Mussten im Jahr 2020 in Deutschland noch zehn Menschen im Erwerbsalter dreieinhalb Ruheständler aushalten, werden sie dann schon für die Renten und Pensionen von vieren geradestehen müssen.

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Die Politik wirkt ratlos, seit Jahren schon. Außer Kommissionen einzuberufen und Notoperationen am System durchzuführen, ist nichts passiert.

Ein Zustand, der Marcel Fratzscher veranlasst hat, einen „neuen Generationenvertrag für Freiheit, Sicherheit und Chancen“ einzufordern, wie er sein neues Buch „Nach uns die Zukunft“ im Untertitel nennt.

Kann der Generationenvertrag noch funktionieren?

Das Werk erhebt den Anspruch, auf 224 Seiten „Wege zu Zukunftsfähigkeit, Generationengerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt“ zu zeigen.

Sein Kern sind die umstrittenen Vorschläge, den bisherigen Gesellschaftsvertrag zu brechen und die Angehörigen der Generation 50+ selbst dafür zahlen zu lassen, dass sie „zu wenige Kinder bekommen“ haben, wie Fratzscher sagt.

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Der Mann, der mit einer Partnerin in Berlin lebt, sein Privatleben aber vor der Öffentlichkeit abschirmt, wirft den Boomern zudem vor, die nach dem Ende des Kalten Krieges leistungslos herabregnende Friedensdividende verfrühstückt haben, statt sie so zu investieren, dass sie in schlechteren Zeiten Gewinne abwirft.

Umverteilung durch Steuern - Für einen Staatsfonds fehlt die Zeit

Umzusteuern und einen Kurs einzuschlagen, wie ihn Norwegen seit 35 Jahren mit seinem heute 1,8 Billionen Euro schweren Staatsfonds verfolgt, ist inzwischen zu spät. Der von der norwegischen Zentralbank in Oslo geführte „Government Pension Fund Global“ hat für jeden einzelnen Norweger heute mehr als 320.000 Euro angelegt.

Die geplante „Stiftung Generationenkapital“, die die Ampel-Koalition mit zwölf Milliarden Euro jährlich hatte füttern wollen, hätte Jahrzehnte gebraucht, um am Aktienmarkt auch nur einen Bruchteil einer solchen Rücklage zu bilden.

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Der Plan scheiterte ohnehin am Ampel-Aus. Auf dem Tisch liegen damit derzeit nur die Vorschläge, die Marcel Fratzscher in seinem Buch detailliert ausführt. Nicht nur die Boomer der Jahrgänge bis 1964 sollen danach zahlen, sondern auch die darauf folgende sogenannte „Generation X“ der Jahrgänge bis 1980, zu der der bekennende Bungee-Jumping-Fan Fratzscher selbst gehört.

Fehlende Generationengerechtigkeit als Problem für die Gesellschaft

„Die fehlende Generationengerechtigkeit ist das vielleicht größte Versagen der heutigen Gesellschaft“, glaubt er. Um sie wiederherzustellen, brauche es für alle Generationen „neue Rechte und Pflichten“, verbindlich vereinbart wie die, die 1889 mit dem „Gesetz betreffend die Altersversicherung“ die gesetzliche Rentenversicherung begründeten.

Um das zu ermöglichen, müssten „die Babyboomer ihre Fehler erkennen“ und sich für das „unerlässliche Umsteuern“ einsetzen. Kein Ding der Unmöglichkeit, wie Fratzscher schreibt. Schließlich wünsche sich diese Generation „für ihre Kinder und Enkelkinder genauso eine bessere Zukunft wie das ihre Eltern getan haben“.

Die Vorschläge des 54-Jährigen, der bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt arbeitete, ehe er 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wurde, muten vor diesem Hintergrund allerdings fast schon verzweifelt an.

Höhere Steuern auf Vermögen und Erbschaften und Investition in Bildung

Auch Fratzscher, wegen weiter zurückliegender Prognosen wie der, die Flüchtlinge würden ja eines Tages die Renten der Boomer zahlen, ohnehin ein Feindbild für viele, plant keine Reform, sondern eine weitere Notreparatur.

Sein Boomer-Soli zum Beispiel würde die späteren Generationen Y, Z und Alpha noch viel härter treffen, weil diese Alterskohorten noch einmal deutlich weniger Kinder bekommen haben.

Auch der Vorschlag, Beamte sollten künftig in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, ist kaum nachhaltiger. Für eine Übergangszeit würden die Einzahlungen der neuen Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung helfen, die Auszahlungsansprüche der aktuellen Rentnergeneration zu decken.

Später aber erwüchsen aus den Einzahlungen neue Ansprüche. Das alte Problem wäre wieder da und es wäre dann noch vielmals größer.

Marcel Fratzscher bettet seine Rentenreformidee deshalb in eine ganze Landschaft aus Veränderungsvorschlägen ein. Durch höhere Steuern auf Vermögen und Erbschaften müssten Bildung, grüne Technologien und Infrastruktur gestärkt werden.

Zugleich aber gelte es, sich die grundlegende Frage zu stellen, „ob wir Wohlstand wirklich in Form von Geld, Erspartem und Schulden messen wollen“. Fratzscher würde stattdessen lieber „Gesundheit, eine intakte Umwelt, ein geschütztes Klima, sozialen Frieden, Freiheit, Eigenverantwortung und Gerechtigkeit“ haben.

Vorschlag: Subventionen für fossile Energien verwenden

Dinge, die man nicht kaufen kann. Die aber alle viel Geld kosten. Woher nehmen? Marcel Fratzscher verweist auf Subventionen für fossile Energien, die er für Deutschland auf 60 bis 70 Milliarden im Jahr veranschlagt.

Kürze man die auf Null, „wären alle Probleme der Finanzierung der ökologischen Transformation gelöst“, ist er sicher. Dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages mit Energiewendekosten zwischen 500 Milliarden Euro pro Jahr und etwa 13,3 Billionen Euro insgesamt bis zum Jahr 2045 rechnet, bleibt unerwähnt.

Marcel Fratzscher, Nach uns die Zukunft, Berlin-Verlag, 224 Seiten, 22 Euro