Wo Deutschland aufhört Wo Deutschland aufhört: Drei Eichen und ein Zipfelbuch
Halle/MZ. - Aber sein Anrufbeantworter lässt keinen Zweifel daran, dass Vorurteile ein langes Leben haben. "Djen dobri! Keine Angst, die polnische Grenze ist zwar nicht weit, aber hier sind sie sicher gelandet bei Familie ..."
Derart eingestimmt, "wage" ich mich weiter vor in den Osten und stoppe vor der Zentendorfer Straße Nummer 29. Im Schatten ihres Hauses sitzen dort die Rentner Elfriede (72) und Kurt Fiebig (76) auf einer Bank und hadern mit dem schwülen Wetter. Herr Fiebig spreizt zur Begrüßung drei Finger seiner rechten Hand. Drei Schlaganfälle habe er gehabt, sagt seine Frau, er könne nicht mit mir reden.
Ihr Leben lang hat Elfriede Fiebig im Kälberstall gearbeitet, ihr Mann war Traktorenschlosser. Nun freuen sie sich über jeden halbwegs gesunden Tag in ihrem Grenzhaus, in das sie vor 43 Jahren eingezogen sind. Sie bewohnen das östlichste Haus Deutschlands. Das ist ein schlichtes, grau verputztes Häuschen, dem man ansieht, dass seine Bewohner ihr Leben lang nie große Sprünge machen konnten.
Keine zwanzig Meter rechts von ihnen haben Bäume und Büsche eine Rampe überwuchert, die vor vielen Jahrzehnten mal auf eine Brücke hinüber nach Polen führte. Ein schwarz-rot-gelber Grenzpfahl aus DDR-Zeiten mit der Nummer 164 sitzt oben drauf. Das, so Frau Fiebig, sei aber nicht der östlichste Punkt, da müsse ich auf dem Neiße-Damm nach rechts.
Ich erzähle ihr von meinem Erlebnis mit dem Anrufbeantworter. Da winkt sie nur ab. "Ich lasse das Haus immer offen, es ist nie was passiert." Viel dummes Zeug werde geredet über die Polen. Aber ihre Tochter, wenn sie da sei, schließe trotzdem alles ab. "Aber die sind ja nachts auf dem Damm unterwegs", erzählt Frau Fiebig. Die, das sind Trupps vom Bundesgrenzschutz. Mit Wärmebildkameras suchen sie die Grenze nach illegalen Einwanderern ab, glaubt Elfriede Fiebig zu wissen. Gesehen habe sie noch keine von diesen Fremden.
Dann mache ich mich zum Ostpol auf. Wie weit es dorthin noch ist, lese ich bald auf einem Schild hinter Fiebigs Haus: 961 Meter. Wer das wohl auf den Meter genau ausgemessen hat? Vielleicht Martin Fiebig, Frau Fiebigs Bruder. Der hat mit anderen Dorfbewohnern vor Jahren an eben diesem Punkt einen fast mannshohen Stein aufgerichtet. Auf einer silbernen Metallplatte wurde darauf mit einem Schweißgerät in vielen kleinen Punkten eingebrannt, dass dies der östlichste Fleck Deutschlands ist.
Drei mächtige Eichen erheben sich über dem Stein, zwanzig Meter dahinter fließt die Neiße. Die Grenzlinie lässt sich hier locker durchwaten. Da, wo die Baumkronen beginnen, endet ein Fahnenmast, an dem schlaff eine Deutschlandfahne hängt. Daneben steht ein bunkerartiges Gebilde. Das habe auch der Martin mit seinen Leuten gebaut, hatte mir Frau Fiebig zuvor erklärt, als kleines Futtersilo. Aber das ist es wohl schon lange nicht mehr. Denn drin laden ein kreisrunder Tisch und eine runde Bank zum Verweilen ein, drehbar beides, gut für viel Gaudi beim Umtrunk am Ostpol. Immer am 3. Oktober zögen der Martin und andere zum Feiern unter die Grenzeichen.
Dort bietet Zentendorf etwas, was es nirgendwo an den geographischen Extrempunkten der Republik gibt: ein Gästebuch, genauer ein Zipfelgästebuch. Es liegt in einem kleinen Verschlag, der unter einem schützenden Kegeldach angebracht ist. Wie an einem alten Sekretär klappt eine Auflage heraus, darauf lege ich das Zipfelbuch. Der Eintrag von Peter Scholz am 16. Juli des Jahres fordert meinen Widerspruch heraus. "... komme vom Allgäu, wo der Biberkopf den südlichsten Punkt markiert". Falsch, Herr Scholz. Denn am Südpol war ich vor wenigen Tagen, und den bildet das Haldenwanger Eck im Allgäu. Ich verzichte auf Korrektur.
"Einen Ort der Stille und des Friedens" hat Uwe Bertister aus Hamburg am 17. Juni hier erlebt, andere waren zum 67. Hochzeitstag "unserer lieben Eltern" hier. Kinder haben gemalt, Väter zum Vatertag gedichtet, bevor sie es sich an Martin Fiebigs Silo-Drehtisch gut gehen ließen. Und irgendwie muss immer "prächtiges Wetter" gewesen sein, so wie heute. Da nehme ich gern Platz auf der Bank unter den Eichen, um im Zipfelbuch den amtlichen Bescheid von Prof. Dr. M. Möser von der TU Dresden zu lesen. Der attestiert den Dörflern auf Anfrage, dass sie den östlichsten Punkt besitzen - genau 51 Grad, 16 Minuten und 40 Sekunden nördlicher Breite und 15 Grad, zwei Minuten und 10 Sekunden östlicher Länge. Nur, wo auf die Sekunde genau das ist, sieht man nirgendwo in der Neißeaue. Das Land ringsherum gehört meist Fremden aus dem Westen, die es nach der Wende aufgekauft haben. Das hatte mir Bürgermeister Ewald Ernst erzählt. Er steht der Gemeinde Neißeaue mit seinen vielen Ortsteilen vor. Das Land am östlichsten Punkt wollte die Gemeinde seinerzeit gern haben. Aber irgendwann war das wenige Geld alle. Der Zuschlag ging an Freiherr von Gayling aus Freiburg im Breisgau. Er gibt den "Gotha" heraus, das "Genealogische Handbuch des Adels", das seit 1763 geführt wird.
Bürgermeister Ernst erzählt unaufgeregt von den vielen Landeignern aus dem Westen, die hier Flächen verpachten. Das mache die Bewirtschaftung nicht leicht, wenn der ferne Waldeigner ein Mal im Jahr mit seinem Förster komme. Er selbst - Jurist - kam einst aus Niedersachsen zur Aufbauhilfe in die Lausitz. Jetzt ist er kaum zu bremsen, wenn er erzählt, wie die Grenze am östlichsten Punkt Deutschlands immer mehr aus dem Alltag der Menschen verschwindet.
Drüben, in Bielawa Dolna, habe man bei der Sanierung des Ortes geholfen. Eine Neiße-Fähre verbindet die Länder. Eine Fußgängerbrücke habe man gezimmert und vor allem "der Tourismus bringt Deutsche und Polen an der Grenze zusammen", sagt Ewald Ernst. Radfahrer, Wassertouristen sind hier zu hauf unterwegs. Der Unternehmer und Künstler Jürgen Bergmann betreibt mit der "Kulturinsel" ein Freizeit- und Holzkunstunternehmen, das seinesgleichen in der EU suche, meint der Grenzort-Bürgermeister.
Er schwärmt von immer besseren kommunalen Kontakten zur gegenüberliegenden Kleinstadt Piensk, wo in der dortigen Glasfabrik vor hundert Jahren das Glas für die "Titanic" hergestellt wurde. Nun entwickeln die Kommunen Ideen, wie sie grenzüberschreitend die Wasserversorgung auf Vordermann bringen können. Und Ewald Ernst strahlt, wenn er vom "bi-lingualen Kindergarten" in der Gemeinde erzählt, wo die Kleinen Deutsch und Polnisch lernen und besorgte Eltern anfangs fragten: Was singt mein Kind da eigentlich auf polnisch? Die Fragen sind beantwortet, schmunzelt der Amtmann.
Offen ist indes, wie man den östlichsten Punkt für Reisende noch etwas anziehender machen könnte. Keine leichte Sache bei den vielen fernen Eigentümern und einem Areal, das Überschwemmungsgebiet ist. Zudem sei man hier "FFH": Flora-Fauna-Habitat, Biotope allenthalben. Die Behördenhürden, so der Beamte Ernst, seien dadurch wahnsinnig hoch am östlichsten Punkt Deutschlands. Aber einen Aussichtsturm, den hätte er doch gern dort stehen.