Thalia Theater Hamburg Thalia Theater Hamburg: Subtiler Blick auf den Sündenfall im Balkan
Hamburg/MZ. - Die Hölle ist ein kalter und nasser Ort: Am Boden des unermesslichen Wellblech-Zylinders umspielen kleine Wellen die Knöchel der Verdammten, aus der Höhe tropft unablässig Regen auf ihre Häupter herab. Selbst die Feuer, die der Engel mit den Flammenhänden entfacht hat, zucken vor dem Niederschlag zurück.
Dies ist kein Platz zum Verweilen, sondern das unterirdische Dreistromland der Flüsse Acheron, Styx und Lethe. So will es Dante Alighieri, der Dichter und Held der "Divina Commedia". So will es nun auch Tomaz E. Pandur in seinem Regie-Debüt am Thalia Theater Hamburg. "Inferno. The Book of the Soul" ist der erste Teil einer Trilogie, die der berühmte slowenische Regisseur bereits 1994 mit seinem Ensemble am Nationaltheater in Maribor entwickelt hat.
Dass er sie nun für eine deutsche Bühne restauriert und - über drei Spielzeiten verteilt - inszeniert, ist fraglos der größte Coup des neuen Thalia-Intendanten Ulrich Khuon. Denn dieses Ereignis beschert dem Haus nach heftig umstrittenen Inszenierungen wie Michael Thalheimers "Liliom" oder Jürgen Kruses "Hamlet" nicht nur einen garantierten Publikums-Erfolg. Es behauptet die Bühne auch als utopischen Ort zwischen ferner Vergangenheit und einer nicht minder fremden Gegenwart.
Aus Pandurs Perspektive kann das "Inferno" nämlich auch wie ein prophetischer Reflex auf den im Balkankrieg erneuerten Sündenfall der Alten Welt gelesen werden, was ein fraglos souveräneres literarisches Modell als etwa Peter Handkes "Die Fahrt im Einbaum" ist. Dass der Slowene plumpe Aktualisierungen meidet und in seinen suggestiven Tableaus eher allgemeingültige Urbilder als konkrete Dokumentaraufnahmen zitiert, erhöht die Kraft seiner Parabel. Dass der Vergleich aber dennoch leicht als Gleichsetzung missverstanden werden kann, zeigten erste Kritiken nach der Premiere.
Dabei beugt Pandur solchen Kurzschlüssen sorgsam vor: Nachdem der "Engel Balkan" einen kurzen Prolog gesprochen hat, findet Dante seine verlorene Geliebte Beatrice und seinen künftigen Begleiter Vergil in einem Raum, der eher von Hieronymus Bosch als vom "Komödien"-Illustrator Botticelli entworfen scheint. Von der ersten infernalischen Sphäre, dem Limbus, durchleidet der an sein Buch gekettete und Tinte trinkende Dichter bis zum eisigen See des Vergessens eine "Apocalypse now", die ihn mit zahllosen sündigen Seelen und immer wieder mit seinem eigenen Spiegelbild konfrontiert. Es ist eine wahrhaft faustische Reinigung, der er durch sein antikes Vorbild ausgesetzt wird: Ein Crescendo der Versuchungen und Enttäuschungen, ein Säurebad gegen die irdische Korrosion.
Vokabeln wie der auf Vergil gemünzte Titel "Geliebter Führer" wären in einem solchen Kontext zumindest missverständlich, wenn das Spiel mit Blut und Stahl nicht doch noch durch Ironie gebrochen würde. Die aber liefert Pandur erst kurz vor Schluss, als die wuchtigen Choräle und süßen Madrigale seines kongenialen Komponisten Goran Bregovic schon fast verklungen sind. Unter dem Rotorenlärm eines Hubschraubers stöckelt eine modisch gekleidete und germanisch blondierte Journalistin durch das Camp der halbnackten Krieger, um in der Diktion eines Sensationsreporters über - Dante zu sprechen.
Mit dieser geschickten Enttäuschung schließt sich der Kreis, kommt die vom wunderbar einsatzfreudigen Ensemble um Thomas Schmauser vollzogene Reise zu einem vorläufigen Ende. Der Engel Balkan findet den Künstler im Augenblick des Vergessens und schenkt dem Erschöpften einen neuen Namen: Europa, mein möglicher Bruder. In weiter Ferne so nah!