Schach Schach: Lang lebe der König
Halle/MZ. - Denn: Eine Niederlage wegen eines Telefonanrufes wäre der Alptraum eines Jeden. Besonders für Maria Schöne.
Aber an diesem Morgen ist die 21-Jährige erreichbar. Sie hat schon gefrühstückt, sie hat die Zeitung gelesen, und sie bereitet sich gerade auf ihre nächsten Spiele vor. Maria Schöne, Psychologiestudentin aus Magdeburg, ist eine der beiden sachsen-anhaltischen Olympioniken, die derzeit in Dresden an der Internationalen Schacholympiade teilnehmen. Im "Deutschland 2"-Team will die junge Frau in den nächsten beiden Wochen darum kämpfen, dass die Bundesrepublik - die sie im weltweiten Vergleich in die obere Mittelklasse einordnet - möglichst gut abschneidet. Eine Partie an vier Brettern hat die Mannschaft bereits erfolgreich bestanden: Mit 2,5 zu 1,5 Punkten sind die Olympioniken in einer guten Ausgangsposition. Die Punkte sind wichtig, denn nach ihnen werden die folgenden Matches ausgelost. Das Schweizer System, wie die Schachspieler das Verfahren nennen, sorgt dafür, dass man wie bei einer Pyramide immer weiter nach oben rutschen kann. Und wenn es gut läuft, schafft man es am Ende bis aufs Siegertreppchen.
Elf Jahre nun schon spielt Maria Schöne Schach, inzwischen in der Damen-Bundesliga und der Männer-Oberliga. Das, was ihr der Vater einst aus reinem Vergnügen beibrachte, mündete längst in harte Arbeit und immer wieder Training - dies ist auch das Erfolgsgeheimnis. Worin die Faszination dieses Sports besteht? "Für mich sind es die Adrenalinstöße während der Partien", sagt sie. "Wenn man zwischen zwei Zügen überlegt, wenn man eine Variante durchrechnet und zu dem Schluss kommt - das könnte zum Sieg führen: Das ist stets der faszinierende Augenblick", beschreibt sie die Momente.
Michael Zeuner vom Schachverband in Sachsen-Anhalt hat noch eine weitere Erklärung. "Es ist der einzige Sport, der Glück ausschließt", glaubt der Geschäftsführer. Und deshalb ist seine Rechnung, um ein hervorragender Schachspieler zu werden, ganz einfach: fünf Prozent Talent plus 95 Prozent Training, dazu strategisch denken können. Psychologisches Einfühlungsvermögen kommt natürlich hinzu. Als beispielsweise die US-Legende Bobby Fischer 1972 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und beim wohl berühmtesten Match der Geschichte in Reykjavik den Russen Boris Spasski besiegte, da war das
nicht nur seinem spielerischem Können geschuldet. Der exzentrische Amerikaner hatte Spasski unglaublich gereizt. Mal kam er zu spät, dann war das Licht wieder falsch, schließlich störten die Kameras, und dann wollte er gar nicht mehr spielen. Erst US-Außenminister Henry Kissinger konnte Fischer überzeugen, überhaupt weiterzuspielen.
Ganz so dramatisch ist es natürlich nicht immer. Gespielt wird vor allem wegen der Freude. 100 000 sind in Deutschland in Schachverbänden organisiert, in Sachsen-Anhalt derzeit etwa 2 300. Schach spielen freilich weit mehr. Denn natürlich ist der Wettbewerb am Brett mehr als nur der demonstrierte Wille zum Sieg. Es hat auch mit Spaß zu tun, viel mit Geselligkeit. Keiner weiß das besser als Karl-Heinz Zacke.
Zacke, muss man wissen, stammt aus dem brandenburgischen Oranienburg, hat das Schachspielen als Kind im Krankenhaus gelernt und trägt sein Herz auf der Zunge. Wenn man wie er nicht nur einfach Schach spielt, sondern das auch wirklich enthusiastisch tut, dann kommt man irgendwann ins Harzdorf Ströbeck, das der 72-Jährige gern "die Arche Noah des Schachs nennt". Und weil er fand, dass das "alles Dünnbier ist", was dort in Sachen Schach passierte, beschloss Zacke kurzerhand, "dass die Arche Noah nicht untergehen darf". Er pachtete am Platz zum Schachspiel das örtliche Gasthaus "Zum Schachspiel".
Seitdem werden in Ströbeck, wohin der Kurfürst der Legende nach das Schach im Jahre 1651 gebracht haben soll, noch mehr Läufer und Pferde, Türme und Bauern über die Felder gejagt als zuvor - denn wenn Zacke etwas angeht, macht er das richtig. Für gewöhnlich pendelt er nun zwischen Oranienburg und Ströbeck. Nur in diesen Tagen hat sein Gasthaus ausnahmsweise "wegen Betriebsferien" geschlossen. Denn Karl-Heinz Zacke ist - selbstverständlich - nach Dresden zur Schacholympiade aufgebrochen. Er will nicht nur die Landeshauptstadt besichtigen und zugleich ein paar Großmeister sehen - er will vor allem am Altherrenturnier teilnehmen.
Erstmals nach 48 Jahren findet in Ostdeutschland wieder eine Schacholympiade statt - 1960 war sie in Leipzig. Grund genug also für viele, diesmal in die Elbemetropole zu fahren. Zacke wird deshalb noch zwei weitere Herrschaften aus Ströbeck treffen: Rudi Krosch und Ehefrau Renate. Die beiden wollen Ströbeck ins Gespräch bringen. Ehefrau Renate betreibt einen kleinen Schachverlag, in dem sie Historisches rings um den Sport verlegt und Kuriositäten aus der Welt des Schachs vertreibt. Ehemann Rudi, seit 1990 Bürgermeister im Ort, ist oberster Dienstherr des kleinen, aber feinen Museums.
Wenn Krosch so durch die Museumsräume läuft und irgendwann vor der ab 1823 geführten Ehrentafel mit den Jahrgangsbesten im Schach stehenbleibt, dann stößt er auch auf seinen eigenen Namen.
1958 war er der Beste in der Schule. Danach, sagt er, hat er lange nicht mehr gespielt. Erst die friedliche Revolution habe ihn wieder ans Brett geführt. Wie bitte? Naja, sagt Rudi Krosch, es war ja so: 1990 habe sich niemand im Dorf mehr in Parteien engagieren wollen. So sei zu den Kommunwahlen 1990 der örtliche Schachverein angetreten und habe das Rennen gemacht. Mit acht Mandaten stellten die Spieler damals die größte Ratsfraktion im Dorf. Krosch war einer von ihnen und wurde zum Bürgermeister gewählt. Ganz neu im Schachverein, war es dann irgendwie nur logisch, wieder mit dem Schach zu beginnen.