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Internet-Tagebücher Internet-Tagebücher: Ich blogge, also bin ich

Von Caroline Bock 30.08.2006, 07:00

Berlin/dpa. - Ein Anker mit dem Slogan «I live by the River», dazu hippe T-Shirts und Tassen mit Logo: Auf den ersten Blick siehtdas Kellerbüro von «Spreeblick» in Kreuzberg aus wie einer der vielen kleinen Modedesignerläden in Berlin. Ganz falsch: «Spreeblick.com» ist einer der beliebtesten deutschen Blogs, wie die interaktiven elektronischen Journale (Weblogs) heißen, und wurde wie «Riesenmaschine.de» 2006 mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet. Täglich hat «Spreeblick» nach eigenen Angaben etwa so viele Leser wie eine Lokalzeitung. Die T-Shirts und Tassen gehören zum Shop des Verlags.

Noch wissen viele Deutsche nicht, was sich hinter den Blogsverbirgt. Die Zahlen zur Szene jedoch sind beeindruckend: JedeSekunde entsteht angeblich weltweit ein neues virtuelles Tagebuch, und das kalifornische Unternehmen Technorati erwartet, dass sich dieAnzahl der Blogs alle fünfeinhalb Monate verdoppelt, weltweit sollenes bereits mehr als 50 Millionen sein. Für Deutschland wird die Zahlder Blogs auf zwischen 400 000 und 500 000 geschätzt. Nico Lumma von«Blogg.de», bei dem Internetnutzer sich ein solches Journal anlegenkönnen, hält die Zahlen allerdings nicht für sehr aussagekräftig,weil ähnlich wie bei E-Mail-Adressen nicht jede angemeldete Seitegenutzt wird. «Die Blogosphäre wächst langsam, aber stetig», sagt er.

Ob das von Internetnutzern erstellte Universallexikon «Wikipedia»,die Videobörse «Youtube.com» oder die Kontaktbörse «Myspace.com»: DasInteresse am World Wide Web ist fast wieder so groß wie zu Zeiten desersten Internetbooms. Vorher ging es um das schnelle Geld, jetzt solles um den einzelnen Nutzer und die Macht des elektronischenKollektivs gehen. Ob Bilder von Hundehaufen oder banalerTagebucheintrag, ob Reisebericht, fundierte politische Analyse oderMedienkritik: Jeder sagt, zeigt und schreibt so ziemlich, was erwill, und das bei potenziell weltweiten Reaktionen.

Besonders bei Kriegen und Naturkatastrophen haben etablierteMedien den Wert der Internet-Tagebücher zu schätzen gelernt. Der«Spiegel» widmete der neuen Internetgeneration («Web 2.0») und dem«bunten, chaotischen Mitmach-Marktplatz» kürzlich eineTitelgeschichte. Auch bei der Medienwoche Berlin-Brandenburg geht esan diesem Donnerstag um die «digitale Avantgarde».

Johnny Haeusler von «Spreeblick» kann dem Hype um «Web 2.0» nichtviel abgewinnen. «Es ist nicht die Revolution, aber es haben sich imWeb Dinge geändert», sagt er. Den Partner übers Internet zu finden,sei heutzutage zum Beispiel eine selbstverständliche Möglichkeitgeworden. Die Themen bei «Spreeblick» reichen von der Werbekampagne«Du bist Deutschland» über die Praktiken des KlingeltonanbietersJamba bis zu Kolumnen von der Computerspiele-Messe in Leipzig. DieSpannbreite erstreckt sich von der popkulturellen Analyse bis zumironischen Zwischenruf. Ein «Spreeblick»-Beitrag von Bloggerin Tanjalautet: «Die Auslegware (!) im Klassenzimmer meines Sohnes ist 27Jahre alt... musste ich gerade mal loswerden. Danke für IhreAufmerksamkeit!» Dafür erhielt sie immerhin 55 Kommentare.

Johnny Haeusler (42), der früher auch erfolgreicher Musiker undRadiomoderator war und sich schon seit 1990 mit dem Internet befasst,liest zu Hochzeiten am Tag 300 Kommentare seiner Leser. Und erantwortet ihnen, auch von unterwegs mit dem Handy. Alle paar Minutenertönt aus seinem Laptop ein leiser Gong: Wieder hat sich ein«Spreeblick»-Leser zu Wort gemeldet. Besonders hitzig werden dieReaktionen beim Thema Religion oder beim Libanon-Konflikt. Es gabauch schon Zeiten, da hatte Haeusler tagelang daran zu knapsen, dassihn seine Leser persönlich angegriffen hatten.

«Man muss schon ein Stück weit eine Rampensau sein», sagt NicoLumma über das Wesen der Blogger. Über die Qualität der Einträge kannman streiten: Als «Klowände des Internet» hat ein prominenter Werberdie Blogs bezeichnet, die «Süddeutsche Zeitung» sah sich im «Ozeander Banalitäten». Haeusler vergleicht Blogs mit Graffiti, dieKritzelei oder Kunst sein können.

Und wo geht die virtuelle Reise hin? Wird Bloggen einmal soselbstverständlich wie Fernsehen? Der KommunikationswissenschaftlerJan Schmidt von der Universität Bamberg glaubt nicht daran. «Blogswerden die klassischen Massenmedien nie ersetzen, allenfallsergänzen.» In einer Umfrage haben die Forscher die wichtigsten Motiveder deutschen Blogger herausgefunden: Spaß, Lust am Schreiben undFreude am Festhalten von Erlebnissen für sich selbst und andere.