Fußball-WM Fußball-WM: Berlin macht Druck auf Taschendiebe

Berlin/dpa. - Seine drei Kollegen lauschen und halten sichbereit, ihm zu Hilfe zu eilen. «Sie haben sich voneinanderverabschiedet; ich komme zurück», gibt Swen durch.
Fehlanzeige! Ob die beiden observierten Männer brave Bürger odergewiefte Taschendiebe sind, die den Verfolger «gerochen» haben,bleibt offen. Wer die Ermittler bei der Jagd auf Langfingerbegleitet, blickt der Stadt in ihr anderes, hässliches Gesicht. DieMuseen, die Galerien und die Auslagen in den Läden werden irrelevant.Der Tunnelblick der Kriminalbeamten konzentriert sich auf jeneSpezies, die davon lebt, anderen die Handtaschen und Geldbörsen zuleeren.
Swen, Birgit, Uwe und Bernd sind ein eingespieltes Team. Im Sommerstießen sie zu der neuen zentralen Ermittlungsgruppe gegen dieTaschendiebszene. Von der Bündelung der Kräfte und der deutlichenAufstockung auf 62 Fahnder verspricht sich die Berliner Polizeisichtbare Erfolge. Bislang scheint das aufzugehen. Seit ihrerGründung Anfang August nahmen die Beamten der Sondertruppe 94mutmaßliche Langfinger fest. Hannover soll mit einem ähnlichenKonzept bei der Expo die Zahl der Diebstähle halbiert haben. SeineErwartung an die Truppe mit dem ulkigen Namen EG «Tasche» hat derBerliner Polizeipräsident Dieter Glietsch klar benannt: Bei derderzeitigen Aufklärungsrate von 2,7 Prozent darf es nicht bleiben.
Denn im nächsten Jahr ist die Bundeshauptstadt Gastgeber derFußball-WM und damit Magnet für Taschendiebe aus aller Herren Länder.Der Vizechef der EG, Thomas Neuendorf, weiß, wovon er spricht: «2004wurden in Berlin mehr als 18 000 Taschendiebstähle registriert, dasDunkelfeld ist enorm. Wir mussten handeln, Berlin darf im nächstenJahr nicht zur Welthauptstadt der Taschendiebe werden.» Die Berlinersind durch Sportereignisse dieser Größenordnung in anderen Länderngewarnt. Bei der Europameisterschaft in Portugal zum Beispielschlugen Langfinger bei einem einzigen Fußballspiel 200 Mal zu.
Ein dunkelhäutiger Mann mit Basecap steigt auf dem Kudamm in einenBus der Linie 100 - wegen der zahlreichen Touristen ein Tummelplatzfür Ganoven. Als Unauffälligste des Teams observiert diesmal Birgitund fährt ein Stück in dem Doppeldecker mit. Über versteckte Ohrhörerund Mikrofon ist die 36-jährige Polizistin mit den Kollegenverbunden. «Aus langjähriger Erfahrung rattert bei uns im Kopf einRaster - aus welchem Land könnte der Mann kommen, was hat er beisich, ist ein potenzieller Komplize in der Nähe, trägt er einenRucksack oder einen Stadtplan?», erklärt Uwe. Wenn die Diebe ihrenOpfern an die Handtasche gehen, nutzen sie Pläne oder Zeitungen, umihr Vorgehen zu verdecken.
«Wir wissen an der Art der Tat meist schon, welche Nationalitätdahinter steckt», meint Bernd lakonisch, er steuert den Kleinbusrasant durch den dichten Verkehr. «Wenn Reisende auf Fernbahnhöfenoder in Zügen um ihr Bares erleichtert werden, sind meist Polen imSpiel. Sie drängeln sich beim Einsteigen an Reisende heran, währendihre Kumpane sichern.» Aufgeschlitzte Handtaschen sowie so genannteNachläufertaten deuten auf Rumänen hin. Dabei werden bevorzugt alteDamen auf der Sparkasse beobachtet und ihnen hernach auf dem Heimwegdie Rente und die Geldkarte gestohlen. Das Konto wird in Windeseilegeplündert. Kürzlich fasste Bernds Team eine darauf spezialisierteneunköpfige rumänische Bande. Bei «Frühstückstätern», die in Hotelsden Gästen beim Essen die Taschen leeren, handele es sich meist umSüdamerikaner. «Warum Taschendiebstahl die Spezialität bestimmterNationen ist, wissen wir nicht», sagt Bernd.
Neben diesem Team sind weitere Ermittler an Brennpunkten der Stadtunterwegs. Alle Informationen laufen in der Schaltstelle in Berlin-Tiergarten zusammen. Das Großhirn der Truppe ist die Auswerteeinheit;sie sammelt, vergleicht, sucht nach Auffälligkeiten undÄhnlichkeiten. In der Zentrale werden bei der Lagebesprechung amMorgen die Einsatzpläne besprochen. Hier werden auch Festgenommeneverhört. «Er hat mehrere Taten zugegeben», erzählt ein Ermittler übereinen jungen Mann, der gerade mit seiner Freundin bei einem eherdilettantischen Diebstahl erwischt wurde. Er wollte damit seinenHeroinkonsum decken. Das sei allerdings eher ein Ausnahmefall, sagtder Polizist. Beherrscht werde die Szene von professionellen,reisenden Tätern, die nur zugeben, was ihnen ohnehin bewiesen werdenkann. Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass es in Rumänien, aber auchim polnischen Kielce regelrechte Schulen für Taschendiebe gibt. SchonKinder sollen dort an Klingelpuppen auf Stehlen dressiert werden.
Der Bus braust zum Bayrischen Platz in Schöneberg, wo in denvergangenen Wochen mehrfach Taschendiebe zugeschlagen haben. Hiergibt es mehrere Banken und viele Rentner, die Geld abheben. Außerdemist es ein Verkehrsknotenpunkt mit U-Bahnstationen undBushaltestellen - die Ganoven können schnell auftauchen undverschwinden. Vor den Polizisten auf ihrem Beobachtungsposten liegtdas Areal wie eine Theaterbühne. «Was ist mit dem Mann in Weiß?»,fragt Birgit. Auf ihn passen alle Kriterien - er sieht südländischaus, trägt einen Rucksack und blickt suchend um sich. Doch einKomplize ist weit und breit nicht zu sehen. «Wieder nichts», sagtSwen. Fast klingt es enttäuscht.
Das klassische Trio der Taschendiebe besteht aus dem «Zieher», derklaut, dem «Drängler», der die Opfer ablenkt, und dem «Aufpasser»,der beobachtet, ob seine Leute observiert werden. Und alles hat seineZeit. Am Vormittag gehen die Senioren zur Bank. Am Nachmittag sinddie vollen Einkaufszentren interessant. Von Donnerstag an drängenverstärkt Touristen in die Stadt. «Asiaten sind bei den Langfingernbesonders beliebt», plaudert Bernd. «Sie tragen meist all ihreWertsachen bei sich. Zudem sind sie zu höflich, jemandenzurückstoßen, der ihnen dicht auf die Pelle rückt.»
Hochkonzentriert schauen die Kriminalbeamten aus dem Fenster aufdie Menschenströme. «Wir filtern ununterbrochen Informationen», sagtBirgit. «Schlimm ist es bei dem Menschengewimmel in derVorweihnachtszeit.» Der Idealfall sei, die Diebe auf frischer Tatzu ertappen, erklärt Bernd. «Wenn sie uns erst entdeckt haben,versuchen sie uns abzuschütteln. Diese Leute sind sehr flexibel. Wennihnen der Boden zu heiß wird, verschwinden sie aus Berlin oder garaus Deutschland.» Bei Festgenommenen seien Stadtpläne gefundenworden, auf denen Kreuze die ergiebigsten Plätze markierten. «Sieklauen, so viel sie können», erzählt die Kriminalbeamtin. «Bei einemEinsatz in einem Bus hat ein Observierter sogar versucht,ausgerechnet mich zu beklauen.»
Die Fahnder wissen, dass die Täter oft aus bettelarmen Gebietenkommen. «Wenn sie hier mehrere hundert Euro am Tag klauen, sind siedort unten Fürsten», behauptet Uwe. «Manche bauen mit dem Ertrag inder Heimat ein Haus.» Klingt da so etwas wie Verständnis an? «Aufkeinen Fall», sagt Uwe brüsk. «Es gibt sicher Ausnahmen, solche, dieeine Art Ehrenkodex haben und etwa nie Schwangere und Älterebeklauen. Aber die meisten sind skrupellose Straftäter, die alteFrauen als leichte Opfer bevorzugen. Und für eine Oma, der gerade dieRente für einen Monat gestohlen wurde, ist das ein harter Schlag.»
Zudem sei die Szene im Wandel begriffen. Während Taschendiebefrüher niemals Gewalt anwandten, würden die Jüngeren gewaltbereiter.«Deshalb müssen wir sicher gehen», sagt Swen. «Ich will nichtverletzt werden, also bringe ich den Täter bei der Festnahme zuBoden.» Das nimmt man ihm ab, so wie seine Mitstreiter wirkt erkräftig und durchtrainiert.
«Die meisten sind bandenmäßig organisiert», erläutert Bernd. «Wirsind sicher, dass es Strukturen und Absprachen gibt, aber darüberredet keiner der Beteiligten. Der hätte wohl zum letzten Malgeplaudert.» Es gebe Indizien, dass der frühere rumänischeGeheimdienst Securitate die Hände im Spiel hat. «Klaukinder werdengekauft und verkauft und zum Teil fürchterlich misshandelt. Als ichin den 80er Jahren anfing, haben die Richter nie Haftbefehle gegenTaschendiebe verhängt. Das ist heute anders, die Justiz weißinzwischen, dass die Szene Verbindungen zu anderen Bereichen desorganisierten Verbrechens hat. Neulich wurde wieder ein Jugoslawe voneiner anderen Bande abgestochen.» Uwe fügt hinzu: «Wenn zweiTaschendiebe verhaftet werden, kommen zwei andere nach. Und währendwir noch die Anzeige schreiben, tritt schon ein Anwalt auf den Plan.»
Am Rathaus Steglitz ist heute Totentanz, ebenso in Zehlendorf-Mitte. Bernd seufzt: «Erzwingen kann man nichts. Manchmal dauert esStunden, wenn wir jemanden observieren, und manchmal nur 10 Minuten.»Taschendiebfahnder bräuchten vor allem Geduld, Ausdauer undZurückhaltung, denn Langfinger seien äußerst sensibel.
Dabei steht die Arbeit dieser Fahnder gar nicht so hoch im Kurs,während die Kollegen vom Raub- und Morddezernat Ruhm und Ehre ernten.Wie motivieren sie sich für ihren Job? Swen sieht es so: «Wir sinddie Guten und müssen die Bösen fangen.» Und Uwe meint: «Es ist wieRäuber- und Gendarm-Spielen für Erwachsene. Und wenn man einer Omadas gestohlene Geld wiedergeben kann, ist das ein herrliches Gefühl.»Schade sei freilich, dass sich die meisten Opfer, was Zeugenaussagenbetrifft, nicht sehr kooperativ zeigten. «Viele wollen jeden Ärgervermeiden. So bleibt das Risiko für die Täter gering.»
«Überhaupt machen es die Leute den Dieben extrem leicht», grummeltBernd. «Sie stolpern durch die Welt und haben nur im Sinn, schnellirgendwohin zu gelangen. Sie wundern sich nicht einmal, wennplötzlich die Rolltreppe in der U-Bahn stoppt. Dabei war es einGanove, während sein Komplize die Situation ausnutzt, um Beute zumachen.» Viele Leute trügen die Geldkarte nebst PIN-Nummer in derBrieftasche. «Einmal wurden so nach einem Diebstahl innerhalb von 10Minuten 16 000 Euro vom Konto abgeräumt. Das Opfer war pikanterweisedie Gattin des Sicherheitschefs einer Botschaft. Wenn die Menschennur ein wenig aufmerksamer wären», sagt Bernd. «Andererseits»,versetzt Uwe grinsend, «wären wir dann überflüssig».