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Elke Domhardt Elke Domhardt: Die Nessel Wirklichkeit greifen

Von Simone Voigtländer 21.11.2001, 10:56

Halle/MZ. - Elke Domhardt fasst dabei die "Nessel Wirklichkeit"richtig fest an, wie es der brummige ArnoSchmidt von allen Schriftstellern fordert.Der jugendliche Ich-Erzähler in "Die Maus"listet auf, wer ihn eigentlich so mag, wieer ist. Er kommt zu dem erschütternden Ergebnis:Nur "Die Maus", ein zugezogener Wolgadeutscher,mit dem er in den Ferien ein paar Mal badenwar. Und der ihm nun den Weg in die Schul-Cliqueversperrt. Da stimmt doch etwas nicht, sagtsich der Ich-Erzähler und rennt im Trainingnoch schneller, damit der Vater endlich aufhört,fassungslos den Kopf über ihn zu schütteln.Und er dient sich in die Clique hinein, indemer die Maus opfert. Der ausländische Mitschülerwird mit derben "Scherzen" in tödliche Verzweiflunggetrieben: Er rennt unter eine Straßenbahn.

Die Autorin nimmt das Schulterzucken der Gesellschaftüber dieses "Vorkommnis" in ihre Sprache:"Die leben doch nicht ganz hinterm Mond. Undhier, da kommen sie dann mit dem Verkehr nichtzurecht, das ist klar". Das Kopfschüttelndes Vaters über das Versagen seines Sohnesim Training scheint wie das Ticken einer Bombedem Text unterzuliegen. Mit diesen Gestender Gleichgültigkeit und der Resignation gelingtes Elke Domhardt, das Verhalten der Gesellschaftbildhaft umzusetzen.

Wie die Autorin ihre Figuren durch dieErzählperspektive dimensioniert, zeigt diesprachliche Zuordnung des Wolgadeutschen.Er heißt "Maurisias, glaub ich", sagt derErzähler. Aus Gleichgültigkeit bequemt sichkeiner nachzufragen, wie er denn nun wirklichheißt, also wird er "Die Maus" genannt.

Eine ganz andere "Nessel" jagt Amalie vonSelft, Heldin der Titelerzählung "Die schwankendeFrau" in die Flucht. Die stattliche Frau hatsich eine Existenz aufgebaut, sie hat einGeschäft, ein eigenes Haus und sie übt eineKunst aus: Sie strickt Großbilder. Soebenschickt sie sich an, ihr "siebentes Seestück"zu vollenden, das mit Hölderlins "Hälfte desLebens" kokettiert. Da poltern zwei tropfnasseWesen in ihr Haus und ihr Leben, die sichihr halbnackt und distanzlos nähern, so dassihr "Oberbauch, eher angenehm" in Aufruhrgerät. Die Furcht vor dem Animalischen treibtdie Frau panisch von Stockwerk zu Stockwerkihres Hauses bis zur Auslöschung ihrer selbst.

Das Inventar dieser Erzählung ist surreal.Da ziehen die Mädchen - mit lachsfarbenemund russischgrünem Unterrock - an die 20Männerin das sonst nur von handarbeitenden Frauenbetretene Geschäft. Die Männer in Hut undMantel scheinen aus René Magrittes philosophischenBild-Inszenierungen hinübergewandert zu sein.Das Haus, in dem Frau von Selft immer höherflüchtet, hat über 50 Etagen. Es wird immerschmaler und desolater, oben schwankt dasHaus im pfeifenden Wind hin und her. Der strengdurchkomponierte Bau der 50 Seiten-Erzählungspiegelt die Architektur des Hauses: Breitund stattlich, detailreich zu Beginn wirddie Erzählung mit der Flucht schmaler, atemloser,abgerissener.

Elke Domhardt, geboren 1950, hat fast 20 Jahre lang als Schauspielerin in Halle und Eisleben gearbeitet und "nebenbei" 1987 bis 1989 am Literaturinstitut in Leipzig studiert. Heute ist sie Sprecherin im Rundfunk. Aus beiden Tätigkeiten zieht sie Schreibprofit.

Elke Domhardt ist bei Tschechow und Kafka in die Schule gegangen. Die strenge Parabel ist ihre bevorzugte Erzählform. Sie greiftthematisch und vor allem mit dem Wie des Erzählens mitten in die Absurdität des modernen Lebens. Ihre "Nessel Wirklichkeit" brennt, das muss der Leser aushalten können.

Elke Domhardt: "Die schwankende Frau",Verlag Janos Stekovics, 112 S., 19,80 Mark.